Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ältesten Tochter aber auch nicht einmal einen Grabstein gesetzt, und meine Mutter hatte von der Existenz dieser Schwester niemals etwas erfahren.
»Wir müssen ins Bett, Rixa, komm, du schläfst ja schon.«
Ich schreckte hoch, wusste für einen Augenblick nicht, wo ich war und warum, hinter meiner Stirn explodierten die Bilder.
Alex löste das Weinglas aus meinen Fingern und stellte es auf den Tisch, griff nach meiner Hand und zog mich in Richtung Treppenhaus.
»Hopp, Schwesterlein, Schlafenszeit, der Tag war lang.«
Ivo, der am Druck zerbricht. Ivo, der zu viel trinkt und vom Aussteigen träumt, von der ganz großen Flucht.
»Alex?«
»Was?«
»Glaubst du, dass Ivos Tod ein Unfall war?«
Alex blieb nicht stehen, und er wich meinem Blick aus, nur der Druck seiner Hand wurde fester.
»Quäl dich nicht so, Rixa, wir müssen jetzt schlafen.«
Theodor, 1933
Es fällt ihm schwer, sich von den Büchern zu trennen, viel schwerer, als er vermutet hatte. Lion Feuchtwanger. Stefan Zweig. Heinrich Heine. Jedes Buch birgt seine eigene Geschichte und liegt ihm wie Blei in den Händen. Heine:
Almansor
. Eine Tragödie. Im Kolloquium vor dem Examen hatten sie darüber heiß diskutiert, weil es auch um den Koran darin ging, um den Umgang mit Andersgläubigen und deren Heiligtümern, wie man ihnen begegnet.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin
… Auch das berühmte
Loreley
-Lied hat Heine gedichtet, immer war es Theodor so vorgekommen, als sprächen diese Zeilen dem geschundenen deutschen Vaterland geradezu aus der Seele. Und nun sollen sie undeutsch sein und verbrennen, weil Heine zwar zum evangelischen Glauben konvertierte, aber qua Geburt Halbjude war und noch dazu mit den Roten paktierte.
Die Roten natürlich, Brecht, Marx, Liebknecht, Kerr, Tucholsky und wie sie alle heißen – bei denen besteht kein Zweifel daran, wo sie hingehören, deren Schriften standen bei ihm noch nie im Regal. Aber Joachim Ringelnatz? »Ein männlicher Briefmark«, »Die Schnupftabakdose«, »Der Bumerang« – die Kinder lieben es, wenn er ihnen diese Gedichte vorliest. Er blättert durch die Seiten, zögert, wirft das Lyrikbändchen dann doch in die Kiste. Es ist wie beim Gärtnern, man muss manchmal hart sein. Eine Pflanze, die sowohl gesunde als auch kranke Triebe entwickelt, ist oft nicht zu retten, so sehr man das auch bedauert. Nur wenn man alles Überkommene und Faulige ausmerzt, entsteht Raum für Neues.
Regen schlägt gegen die Fenster des Arbeitszimmers, der Himmel ist so verhangen und grau, dass man meinen könnte, es sei November und nicht ein Vormittag im Mai, der Garten ist ein Reich aus zerzausten Schemen. Wie sollen die Scheiterhaufen am Abend denn überhaupt brennen, bei solchem Wetter?
Wie beseelt war er doch am 30. Januar, beseelt von der Zeitenwende, weil Adolf Hitler Reichskanzler wurde. Wie ergriffen war er von dessen Ansprache, die der Rundfunk bereits zwei Tage später ausstrahlte. Kirche und Politik im Schulterschluss, so wie einst unter dem Kaiser, das war es, was Hitler versprach:
Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, unsere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen unseres Volkes beglücken,
lautete der Schlusssatz. Theodor hatte ihn notiert, um ihn nicht zu vergessen. Und dann, im März, die feierliche Eröffnung des Reichstags und die Predigt von Dibelius dazu in der Nikolaikirche zu Potsdam.
Ist Gott für uns, wer mag gegen uns sein?
Der märkische Generalsuperintendent bezog sich in dieser Predigt auf den Römerbrief, genau wie er selbst das in seiner Jahrestagspredigt für Klütz getan hatte.
Gott hat die Seinen erhört und nicht vergessen! Die Kirche wird in neuem Glanz erstrahlen, die Gottlosen haben nicht gewonnen. Es hat sich gelohnt, dass er und viele andere am rechten Glauben festgehalten haben, durch alle vergangenen Nöte und Krisen.
Theodor richtet sich auf und mustert seinen Bücherschrank. Da sind doch mehr Lücken entstanden, als er gedacht hätte, und tatsächlich erscheint nicht jedes Argument, das die Dichter auf die schwarze Liste gebracht hat, plausibel. Dennoch, die Grundtendenz stimmt, und was ihn persönlich angeht, so ist es wichtig, dass er heute Abend mit ganzer Überzeugung dabei ist, gerade nach den Misstönen der vergangenen Wochen. Auch im Gemeindeblatt wird er ein paar Zeilen aus christlicher Sicht über die Bücherverbrennungen schreiben. Den richtigen Ton zu treffen, darum wird es dabei
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