Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
hieß es früher. Auch ich hatte mich jahrzehntelang nicht mehr an jenen Nachmittag in Sellin erinnert, an mein Entsetzen in der Kirche. Und dennoch hatte ich es in mir getragen. Verschüttet, vergraben, ohne dass ich es auch nur bemerkte.
Was folgte daraus? Für mein Leben und für das meiner Mutter? Für ihren Tod, ja vielleicht sogar für Ivos?
Die Nacht schritt voran, es war schon bald zwei, doch meine Gedanken kreisten und kreisten. Alex saß neben mir, den Blick auf die Flammen gerichtet. Ich betrachtete sein Profil, entdeckte ein Netz feiner Fältchen unter seinen Augen.
»Warum bist du nach Australien gegangen, Alex?«
»Wegen des Great Barrier Reefs, das liegt nun mal nicht vor der deutschen Küste.«
»Und wenn Ivo nicht gestorben wäre und Ma und ich dich nicht so verletzt hätten?«
»Dann wäre ich auch gegangen, nur anders.«
»Du bist glücklich dort, oder? Du hast erreicht, was du immer wolltest, bist dir selbst treu geblieben.«
»Und du, Rixa?«
Ich beugte mich vor und verteilte den letzten Wein in unsere Gläser.
»Vielleicht werd ich das auch noch.«
Wir prosteten uns zu, schauten in die Flammen.
»Wie hießen noch mal diese bunten Fische, die das Geschlecht wechseln können?«
»Meerjunker meinst du.«
»Meerjunker, ja.«
»Genau genommen sind das qua Geburt alles Hermaphroditen. Die Jungfische sind zunächst alle weiblich, erst mit zunehmendem Alter und einer Körpergröße von mehr als neunzehn Zentimetern verwandeln sie sich in Männchen.«
»Ivo fand das total faszinierend.«
»Das ist es ja auch. Aber es ist keine Seltenheit in der Tierwelt. Die ranghöchsten weiblichen Putzerfische zum Beispiel verwandeln sich, sobald die Hierarchie in ihrem Schwarm ins Wanken gerät, in Männchen, um die Führung zu übernehmen, und bei den Seepferdchen sind es die Männchen, die die Gelege in einer Bauchtasche ausbrüten, und …«
Ich lehnte mich zurück und stellte mir einen regenbogenbunten Fisch vor, der sich nach Belieben verwandelte, und so dem Schicksal ein Schnippchen schlug. Sah ihn für einen Moment in meinem Weinglas herumschwimmen und gegen die gläserne Wand anstürmen.
»Ivo war Mas Liebling, von Anfang an, seine Malerei war nur eine Zugabe«, sagte Alex.
»Willst du nicht wissen, warum ihr die so wichtig war?«
»Es würde nichts ändern, oder?«
»Vielleicht doch.«
Die Andeutung eines Lächelns in Alex’ Mundwinkel, seine Augen, die mich mustern.
»Ich werde nach Sellin ziehen«, sagte ich. »In dieses Pfarrhaus. Ich bleibe dort so lange, bis ich weiß, was mit unserer Familie geschehen ist und warum Mama auf einmal dorthin fuhr.«
»Und wovon willst du leben?«
»Ich hab ein paar Rücklagen. Und es gibt Hotels in Mecklenburg. Ich bin eine ziemlich gute Barpianistin. Irgendetwas wird sich schon ergeben.«
Othello kam mir ihn den Sinn. Othello, den nun hoffentlich die Nachbarin meiner Mutter fütterte. Othello, der nun wahrscheinlich erneut verwirrt war, noch verstörter, weil auch ich wieder verschwunden war. Können Katzen denken oder fühlen? Trauern sie? Oder ist das alles nur menschliches Wunschdenken, so wie die Vorstellungen, die wir uns voneinander machen.
Du bist nicht meine Tochter.
Ging es damals in der Kirche von Sellin mit meiner Großmutter und Mutter um Amalie? Ruhte sie unter einem der verwitterten Grabsteine, an denen ich erst vor ein paar Tagen vorbeigelaufen war? Wann genau war ich eigentlich in diesem Land aus Eis und Schnee gewesen, vor drei Tagen, vor vier? In einem anderen Leben?
Endlosschleifen in meinem Kopf, Bilder, die sich übereinanderlagerten, immer wieder neu, als blickte ich in ein Kaleidoskop, das sich zu schnell drehte. Ich in dieser Kirche, die Hölle rechts, und links der Himmel. Othello im Gras hinter der Veranda. Mein Großvater auf dem Friedhof. Hatte er seine eigene Tochter hier beerdigen müssen? Worte des Trosts und Bedauerns sprechen, aus der Bibel zitieren? Oder war auch das nur ein Phantasiebild? Vielleicht, ja, ich wünschte es mir. Wünschte mir auf einmal sehnlichst, er und meine Großmutter hätten sich aufs Grab ihrer Tochter geworfen und gewehklagt.
Amalie Retzlaff, die Älteste, Erste, geboren 1924, gestorben, bevor die Retzlaffs Sellin verlassen hatten, so viel hatte ich von meinen Onkeln und Tanten immerhin erfahren. Vielleicht waren meine Großmutter und meine Mutter an jenem Sommertag also tatsächlich mit mir nach Sellin gefahren, um ihr Grab aufzusuchen. Vielleicht hatten meine Großeltern ihrer
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