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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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gestanden. Des Kaisers neue Kleider.«
    »Aber das meinte er doch nicht ernst, das war Koketterie. Das Ivosche Understatement.«
    »Bist du da ganz sicher?«
    »Er stand schon unter Druck, klar. Und wenn er was Neues ausprobiert hat, war er wie besessen. Aber du bist letztlich auch nicht anders, wenn es um deine Fische geht.«
    »Ivo hat gesoffen und gekifft.«
    »Er hat halt versucht, diesen enormen Leistungsdruck zu kompensieren. Diesen ganzen Erfolg, die Erwartungen und –«
    »Wann hörst du endlich auf, ihn zu verklären?«
    »Verklären? Wieso verklären?«
    »Es lief zum Schluss längst nicht mehr rund für ihn, Rixa, das war doch offensichtlich. Er hatte Stress mit seiner Galerie, weil er nicht pünktlich lieferte. Er war chronisch klamm. Er war ausgebrannt. Ideenlos. Andere zogen an ihm vorbei, selbst sein Kompagnon Piet. Am liebsten würde er alles hinschmeißen und abhauen, hat Ivo gesagt, als wir das letzte Mal telefonierten. Irgendwo ganz woanders noch mal ganz von vorn beginnen, inkognito, vielleicht in der Südsee.« Alex lachte auf. »Das war wieder typisch! Ausgerechnet in der Südsee.«
    »Du spinnst!«
    »Nein, keineswegs. Ich hab ihm im letzten Jahr Geld geliehen, damit er seine Miete noch zahlen konnte.«
    Mein Mund fühlte sich trocken an, hinter meiner Stirn war ein dumpfes Rauschen. Geisterbruder, Geistertante. Manchmal, wenn ich überraschend ins Atelier gekommen war, schien es, als wechselten Ivo und Piet schnell das Thema. Hatte Alex recht, hatte es den Ivo, an den ich mich zu erinnern glaubte, den ich in- und auswendig zu kennen geglaubt hatte, womöglich gar nicht gegeben?
    »Wusste Mama davon?«
    »Von Ivos Geldnöten? Ich denke schon. Und bestimmt hat sie ihn nicht hängen lassen, sondern ihm jedes Mal, wenn er sie darum bat, ein paar Scheine zugesteckt. Ihr Jüngster. Ihr kleiner Liebling. Du weißt doch, wie sie war.«
    »Weiß ich das, ja?«
    Ich, nachts, allein in meinem Bett in einer unserer Ferienwohnungen. Ein dünner Lichtstrahl unter der Tür. Leise Schritte. Die Flüstergeschichten meiner Mutter in meinem Haar. Gefühle, so viele fremde Gefühle, die mich überwältigten. Ihre, nicht meine. Und irgendwo ganz in der Nähe und doch unerreichbar für mich, die Welt meiner Brüder. Das leise Knarren des Fußbodens, wenn einer von ihnen noch einmal aufstand, ihr Gekicher, ihre Spiele. Ich hatte mich nach ihnen gesehnt, regelrecht nach ihnen verzehrt, denn bei ihnen schien so vieles so viel einfacher zu sein als in dieser Geheimwelt, die ich mit meiner Mutter teilte.
    »Meinst du, Mama wusste auch, dass Ivo die Nase voll hatte und abhauen wollte?«
    »Das glaube ich kaum. Und wenn doch, hätte sie sich sicher bemüht, das sofort wieder zu verdrängen.«
    »Damit sie ihn weiter anhimmeln konnte, meinst du.«
    »Ja.«
    Und ich? Ich hatte mich in den Monaten vor Ivos Tod von ihm entfernt, weil ich mich auf meine Musik konzentrieren wollte, das bevorstehende Examen, meine eigenen Pläne. Ich kam noch ins Atelier, spielte dort hin und wieder Klavier, aber nicht mehr so oft.
    Ich dachte an all diese von Zeit und Alltag gelösten Nächte, die ich in den Jahren zuvor mit Ivo und Piet im Atelier verbracht hatte. Ich dachte an die Loyalität, die aus dieser Anfangsphase in Berlin entstanden war, an die Fahrt in Wolles Moskwitsch vor ein paar Tagen, seine raubeinige Loyalität und an die Schuldgefühle, die mich mit Piet verbanden. Ich musste noch einmal mit den beiden sprechen. Über Ivo und mich und wie wir damals gewesen waren. Über das, was Alex gesagt hatte und über meine Mutter, die ein halbes Jahr, nachdem sie das Pfarrhaus von Sellin gekauft hatte, auf einmal im Atelier aufgetaucht war, um Ivos Sachen aufzuräumen, obwohl sie doch wissen müsste, wie wenig ihm ihre Ordnungssysteme entsprachen, wie sehr er die hasste.
    Warum hatte sie das getan – nach all diesen Jahren? Um den Mythos vom Genie ihres jüngsten Kindes ein für alle Male in Stein zu meißeln, bevor sie sich das Leben nahm? Und warum war das so verdammt wichtig für sie? Warum immer nur Ivos Malerei, nicht meine Musik, nicht Alex’ Forschung? Ich wollte das herausfinden. Jetzt. Sofort. Ich wollte außerdem nach Spuren dieser Amalie suchen, meiner unbekannten Tante. Woran war sie gestorben? Warum? Konnte sich meine Mutter noch an sie erinnern? Oder war sie, als Amalie starb, noch zu jung gewesen, um eine Beziehung zu ihr aufzubauen, und also auch, um sie zu vermissen und um sie zu trauern? Kinder vergessen schnell,

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