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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Matsch krallen, ihr besudelter Mantel, ihr strähniges Haar, ihre verquollenen Augen, die uns nicht sahen, niemanden, nichts, nur dieses Grab und die Urne, nur Ivo.
Warum er?
, diese Frage, ein Echo von mir.
    Sie hätte nicht so getrauert, wenn ich gestorben wäre oder Alex, hätte nicht so mit Gott und dem Schicksal gehadert. Niemand sprach das je aus, auch sie nicht, und doch fand ich das an jenem Tag völlig offensichtlich.
    Und ich, wie hätte ich reagiert, wenn in jener Nacht Ivo vor meiner Tür gestanden hätte, um mir Alex’ Todesnachricht zu überbringen? Warum er, warum Ivo, warum nicht irgendein anderer Mann, einer, der nicht mein Bruder war, das war, was ich gemeint hatte. Doch Alex verstand das anders und hatte damit wahrscheinlich gar nicht so unrecht. Nie hatte ich mich Alex so verbunden gefühlt wie Ivo, mein Schmerz um ihn wäre ein anderer gewesen, nicht zu vergleichen.
    »Es tut mir so leid, Alex, so wahnsinnig leid. Ich war wie von Sinnen damals. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich das wirklich geschrien habe, und ganz sicher wollte ich damit nicht sagen, dass lieber du –. Aber Ivo war so wichtig für mich, für meine Musik, und dann der Schock …«
    Ein Geräusch in Alex’ Kehle. Ein Raspeln. Sein Adamsapfel, der auf und ab fährt. Adamsapfel, warum sagt man das eigentlich? Die verbotene Frucht, in die Welt verstoßen. Die Frucht der Erkenntnis. Wilde Gedanken. Alex, der weint. Mein eigenes Schluchzen, nicht lange, nicht laut.
    »Damn!«
Alex sprang auf und machte sich am Kaminfeuer zu schaffen. Als er mit seinem Holzscheitarrangement zufrieden war, kam er wieder aufs Sofa, setzte sich neben mich und bat mich um ein Taschentuch, und darüber mussten wir beide lachen, denn er hatte unsere Mutter mehr als einmal damit zur Verzweiflung getrieben, dass er die akkurat gebügelten Taschentücher, die sie ihm morgens getreulich in die Hosentasche steckte, entweder verlor oder zweckentfremdete: als Verband oder für eine Reparatur oder als improvisierten Beutel für allerlei Fundstücke. Einmal hatte er eine teilweise skelettierte Maus in sein Taschentuch geknotet und in der Hosentasche vergessen, unsere Mutter fand sie dann in der Wäsche. Kurz darauf war sie auf Papiertaschentücher umgestiegen. Aber auch die verlor oder vergaß Alex natürlich, genau wie Ivo. Und so war immer ich im Bedarfsfall für die Ausgabe von Taschentüchern zuständig gewesen, wenn meine Mutter nicht da war, für die Verarztung von Tränen und Rotz und Blut – wahrscheinlich war das eine klassisch weibliche Aufgabe.
    Ich lehnte mich an Alex’ Schulter, merkte, wie sich irgendwo tief in mir etwas ein winziges bisschen löste.
    »Weißt du noch, wie Mama immer mit Ivo in seinem Zimmer saß und gemalt hat?«
    »Natürlich, ja.«
    »Sie war dann immer glücklich, oder? So glücklich wie sonst nie.«
    Alex blickte ins Feuer. »Tja.«
    »Und Ivo?«
    »Der hat einfach sein Ding gemacht und sich von ihr anhimmeln lassen.«
    »Das klingt ganz schön hart.«
    »Sie hat ihn vergöttert. Das ist ja wohl unbestreitbar. Aber ehrlich gesagt habe ich nie ganz verstanden, warum ihr das mit seiner Malerei so wichtig war.«
    Ich versuchte mir ihren Gesichtsausdruck in Erinnerung zu rufen, wenn sie an diesem Kindertischchen kauerte. Ihren und Ivos. Gab es ein Foto davon? Bestimmt, ja, in einem der Alben in ihrer Wohnung. Vielleicht würde mir ein solches Bild bestätigen können, was ich damals gesehen zu haben glaubte. Hingabe. Freude.
    Und wenn nicht, wenn ich mich irrte? Soweit ich mich erinnern konnte, hegte sie keine eigenen künstlerischen Ambitionen. Sie hatte auch Ivo nicht zum Malen gezwungen, das war ganz allein sein eigener Wille gewesen. Oder täuschte ich mich?
    Ivo war kein Heiliger, Rixa, er hat gemogelt.
    »Für Ivo wäre es besser gewesen, wenn Ma ihn nicht so vergöttert hätte«, sagte Alex. »Und der Hype um ihn ging ja immer so weiter: an der Akademie, die er dann für dieses Stipendium gleich wieder drangegeben hat. Bei seiner ersten Ausstellung, in den Galerien, die sich um ihn rissen. In der Presse.«
    »Er war eben gut.«
    »Er hat sich inszeniert. Er setzte auf Provokation. Immer veranstaltete er einen Riesenzirkus um jeden Pups, den er auf die Leinwand brachte, und dazu dieser Zwang von ihm, immer bis zum Äußersten zu gehen, bis ins Extreme.«
    »Der Retzlaffsche Perfektionswahn, damit kämpfen wir doch alle.«
    »Im Grunde genommen sei seine ganze Kunst nichts als heiße Luft, hat er mir mal

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