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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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einem auffordernden Blick.
    »Ich habe keinen Appetit.« Amalie lässt die Gabel sinken.
    »Du isst und bist still.«
    »Aber ich …«
    »Keine Widerworte, Fräulein. Deine Mutter hat sich große Mühe gegeben und andere Kinder müssen hungern. Die wären dankbar, wenn sie etwas so Gutes bekämen.«
    Wieder fühlt er dieses Ziehen in der Brust, dieses Sehnen, als ob etwas falsch wäre und er gar nicht in dieses Pfarrhaus gehöre. Dabei sitzt seine Frau ihm gegenüber und die Kerze auf dem weißen Leinentuch leuchtet mit den blanken Gesichtern seiner Kinder um die Wette, die sich ausnahmsweise alle tadellos verhalten. Alle außer Amalie, deren Gabel nun blitzschnell die Speckstückchen von ihrem Teller auf den ihres Bruders sausen lässt. Und schon folgt eine Kartoffel. Und noch eine. Und –.
    Er droht ihr mit dem Zeigefinger.
    Ihre Gabel verharrt in der Luft, senkt sich wieder auf den eigenen Teller. Richard, der sich gegen die verbotenen Gaben seiner Schwester nicht gewehrt hat, zieht den Kopf ein. Auch die Kleinen neigen sich tiefer über ihre Teller. Nur Amalie sitzt aufrecht und schmollt, besinnt sich dann aber doch noch und beginnt zu essen.
    Elise hat recht, er war wohl tatsächlich von Anfang an viel zu nachgiebig mit seiner Ältesten, lässt sich ein ums andere Mal bestechen von ihren blauen Augen und den hellblonden Locken, dabei hat sie es faustdick hinter den Ohren und ist ein rechter Trotzkopf. Elisabeth, seine Jüngste, war von Geburt an das genaue Gegenteil ihrer Schwester: ein kleines Ebenbild ihrer Mutter und ein wahrer Sonnenschein. Wie entzückend sie auch jetzt in ihrem Kinderhochsitz thront und vor Begeisterung über die Bissen, die Elise ihr ins Mäulchen schiebt, mit den feisten Händchen wedelt. Hoffentlich ist Amalie nun zur Besinnung gekommen und er muss nicht auch noch zum Rohrstock greifen. Als Junge hat er nie verstanden, wie sehr jeder Schlag seinen Vater bekümmerte. Jetzt weiß er genau, wie sich das anfühlt. Härte zeigen, um das Gute zu erreichen, ohne das kommt man nicht aus, doch darin liegt ein großer Schmerz, vor allem für die Eltern.
    Keines seiner Kinder blickt auf, als die Mahlzeit beendet ist und er die lauthals protestierende Amalie am Arm fasst und hinauf in ihr Zimmer bugsiert.
Mein Lieblingsbuch, Vater! Bitte, bitte!
Regelrecht bestürmt hat sie ihn gestern Abend und ihn so wieder einmal um den Finger gewickelt. Dabei war er von Anfang an nicht sehr angetan von der Geschichte, die Hermann für sie ausgewählt hatte. Natürlich, ja, sie ist drollig erzählt und hübsch illustriert. Aber ein Mädchen, das lügt und Erwachsene nicht respektiert, und ein Junge, der wahrscheinlich ein Bankert ist und ebenfalls lügt und das Mädchen zum Betteln anstiftet und allein mit seiner Mutter lebt, das ist als Lektüre für Heranwachsende wenig tauglich. Und trotzdem hat er seiner Tochter erlaubt, das Buch noch eine Nacht lang zu behalten. Ein Fehler war das, erkennt er nun. So ist ihre Leidenschaft dafür nur noch heftiger entflammt. Er zerrt sie in ihr Zimmer, schließt die Tür hinter ihnen.
    »Also?«
    »Ich will es nicht hergeben, Vater. Es ist mir so lieb.«
    »Du hat mir dein Wort gegeben, Amalie.«
    »Aber es ist mein Buch, meins!«
    Er versetzt ihr eine Kopfnuss. Härter als er das wollte, ihr Köpfchen fliegt regelrecht zur Seite, und der Schmerz fährt ihm selbst bis ins Handgelenk. Warum muss es nur immer so enden, warum? Tränen schießen ihr in die Augen, ihr Blick flieht an ihm vorbei zur Zimmertür. Er schüttelt den Kopf und sieht zu, wie sie mit sich ringt, erkennt, dass sie keine Wahl hat, und nachgibt. Sie hat das Buch unter ihrer Matratze versteckt, fast muss er darüber lächeln. Zum Glück braucht er nicht noch einmal zuzuschlagen, damit sie es endlich loslässt.
    »Für mein geliebtes Pünktchen Amalie, aus der gewiss einmal ein ganz großer Punkt, nein ein prächtiges Ausrufezeichen werden wird! Zum 8. Geburtstag. In Liebe, Dein Patenonkel Hermann.«
In grüner Schrift mit seiner fein geschwungenen Schrift hat sein einstiger Kriegskamerad diese Widmung auf die leere Vorsatzseite geschrieben. Theodor reißt sie heraus und reicht sie seiner Tochter.
    »Da, die darfst du behalten.«
    »Und das Buch muss verbrennen?«
    »Es ist nur Papier, Amalie.«
    »Aber Pünktchen ist doch gar nicht böse. Sie ist lustig und sie hat ein so gutes Herz und sie tut genau das, was du auch immer predigst, Vater. Sie steht allen, die sie liebt, treu zur Seite und sie hilft ihrem

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