Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
armen Freund Anton, weil der in Not ist.«
    »Aber sie lügt ihre Eltern an und gehorcht nicht und sie ist vorlaut und respektlos.«
    Subversiv sind solche Machwerke. Ausdruck einer schleichenden Verjudung und Verlotterung aller Manieren, eines Verfalls aller Sitten. Die Parteikameraden haben recht. Jetzt, hier, in diesem Moment, in dem Theodor seine Tochter anblickt, wird ihm das erst richtig klar. Kästner bleibt Kästner, auch wenn er nur ein paar schrullige Anekdoten für die Kleinen fabuliert.
    »Onkel Hermann findet das Buch aber gut. Und du hast uns sogar daraus vorgelesen. Warum ist es denn nun auf einmal böse?«
    »Weil die Zeiten sich geändert haben, das weißt du doch. Weil wir uns als Volk jetzt besinnen und wieder erheben und nach vorn blicken dürfen.«
    Nach vorn blicken in eine Zukunft mit Würde, ja, so ist es wirklich. Hoffnung und Aufbruchstimmung haben das Land in den letzten drei Monaten ergriffen. Selbst seine Eltern sind nicht mehr so kritisch und haben zugegeben, dass er sich eventuell doch nicht geirrt hat, als er der Partei beitrat. Nun, da sich die Erfolge einstellen, wollen alle dabei sein. Natürlich, der Aufruf zum Boykott aller jüdischen Geschäfte vom 1. April ist drastisch und zuweilen ungerecht. Aber das wird sich alles noch einpendeln, am Ende wird es um die Geisteshaltung gehen, die richtige Gesinnung, die urdeutschen Werte, genau so, wie er das im Gemeindeblatt geschrieben hat. Auch Wilhelm Petermann wird das noch einsehen.
    »Und Musik, Vater? Gibt es auch böse Musik? Kann man die auch verbieten?«
    Eine berechtigte Frage, sie ist schlau, seine Große. Die
Loreley
kommt ihm wieder in den Sinn, dann in einem wüsten Gedankensprung die Negermusik, die diese völlig enthemmten Hottentotten in den Berliner Spelunken aufführen, und das Geburtstagsständchen, das Amalie für ihn gesungen hat. Ganz allein hatte sie sich diese Überraschung für ihn ausgedacht und eingeübt,
für meinen liebsten Papi zu seinem Ehrentag
. Zum Glück ist Berlin weit fort und sie muss von solchen Auswüchsen nichts erfahren.
    Er geht in die Knie und streckt die Hand nach ihr aus.
    »Klassische Musik kann niemals unrecht sein, Kind. Die bleibt ewig, die ist rein und über alle Anfechtungen erhaben. Genauso wie all unsere schönen Kirchenlieder.«
    Amalie nickt, ihr süßer Flunsch verzieht sich zu einem zittrigen Lächeln. Seine Erstgeborene, seine Tochter. Er weiß nicht zu erklären, warum, und es ist nicht gerecht, doch auf eine Art ist sie sein Kind mehr als alle anderen, sogar als die Jungen. Er zieht sie in seine Arme, merkt, dass sie tatsächlich schon wieder gewachsen ist. Vier, maximal sechs Jahre noch, dann wird ihre Weiblichkeit unübersehbar zu sprießen beginnen, dann wird es gefährlich, bis dahin muss sie gelernt haben, zu gehorchen, denn wenn erst die Burschen –. Er ruft sich zur Ordnung, streicht ihr eine Locke aus dem Gesicht, pustet ganz sanft auf ihre gerötete Wange.
    »Sind wir nun wieder gut?«
    »Ja, Vater, ja.«
    »Dann geh jetzt und hilf deiner Mutter.«
    »Und wann darf ich Klavier üben?«
    »Später, Kind, später.«
    Die sehnsüchtigen Blicke Amalies folgen ihm am Abend aus der Haustür zu Wilhelm Petermanns Wagen. Theodor versucht, sie zu ignorieren, ja, zu vergessen. Doch Amalies Buch, das gemeinsam mit Ringelnatz in seiner Uniformjackentasche steckt, scheint ein Eigenleben zu entfalten, ja regelrecht zu pulsieren, als sie in der festlich erleuchteten Aula der Rostocker Universität den zwölf Thesen wider den undeutschen Geist lauschen, die die Studenten noch einmal laut vortragen.
    Seine einstige Alma Mater. Theodor entdeckt zwischen den vielen SA- und Verbindungsuniformen auch ein paar Uttenruthia-Kameraden, fühlt sich zugehörig, ja beinahe überwältigt von diesem Gefühl. Der 10. Mai 1933, ein historischer Tag. Nicht nur hier, in allen Universitätsstädten des Deutschen Reichs stehen sie in diesem Augenblick so zusammen. Und das Wetter ist ihnen gnädig, es regnet nicht mehr, jedenfalls nicht hier in Rostock. Eigentlich hatte er ja geplant, seine Bücher im Garten zu verbrennen, noch bevor Wilhelm und die Kameraden ihn abholen kamen, doch die Witterung hat dieses Vorhaben vereitelt. Nun ruht die Kiste vorübergehend auf dem Dachboden. Nur die zwei Kinderbücher hat er eingesteckt, die müssen schon heute dran glauben. Eine gute Wahl ist das, beide werfen kein allzu schlechtes Licht auf ihn, und was noch in der Kiste steckt, braucht niemand außer ihm zu

Weitere Kostenlose Bücher