Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
plötzlich auftauchenden Sumpflöchern oder herausragenden Ästen warnen.
»Bevor Sie nach Kanada gekommen sind, was waren Sie da?«, fragte er plötzlich. »Nur brave Tochter, oder haben Sie gearbeitet?«
»Ich bin Lehrerin!«, entgegnete Marie und spürte, wie sie sich unwillkürlich ein wenig straffte.
»Lehrerin?« Carter stieß ein kurzes Lachen aus. »Verzeihen Sie, Miss, aber Sie sehen nicht wie ne Lehrerin aus.«
»Wie sollen denn Lehrerinnen Ihrer Meinung nach aussehen?«
»Na, älter, verhärmter, aber nicht so …« Philipp zerbiss die nächsten Worte und fügte nur hinzu: »Naja, Sie sehen eben nicht wie ne Lehrerin aus.«
»Aber ich bin eine! Jedenfalls war ich das in meiner Heimat.«
»Würden Sie denn wieder als Lehrerin arbeiten wollen, wenn es ginge?«
»Natürlich! Allerdings weiß ich nicht, ob ich eine Anstellung finde.«
»Ich glaube nicht, dass man Sie ablehnen wird, wenn Sie irgendwo vorsprechen. In dieser Gegend gibt es nicht viele Lehrer, selbst in den größeren Städten gibt es manchmal nur einen Lehrer für alle Kinder.«
»Sie kennen sich anscheinend aus.«
»Ich habe gute Ohren. Sie wissen gar nicht, was man in den Pubs alles hört, wenn der Abend lang ist.«
»Das setzt aber auch voraus, dass man sich für alles Mögliche interessiert.«
Philipp schmunzelte. »Wenn man lange unterwegs ist, beginnt man, alles interessant zu finden, was nicht mit Pelzen, Wald, Fallen und Indianern zu tun hat. Wenn ich manchmal in die Städte komme, bin ich erstaunt, welche Wege die Zivilisation doch geht. Und welche Irrwege – allein das ist schon sehr interessant.«
»Aber diese Landschaft ist doch wunderschön! Sicher schöner als irgendwelche Städte.«
»Das finden Sie, aber Sie sind auch noch nicht weit herumgekommen. Ich kenne diese Route in- und auswendig, jeden Stein, jeden Baum, jeden Farn am Wegrand. Da braucht man Dinge, die man im Kopf herumwälzen kann.«
Diese Worte gaben Marie erst einmal zu denken, sodass sie stumm nebeneinander ritten. Als sie das Gespräch wieder aufnehmen wollte, wurde Carter von Jennings nach vorn gerufen. Nach einem kurzen Wortwechsel preschte er voran.
»Wo will er hin?«, rief Marie den anderen zu.
»Einen Lagerplatz für die Nacht suchen! Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, allerdings muss man sichergehen, dass sich gerade an dem ausgesuchten Platz keine Bären herumtreiben. Wir mögen Pelzhändler sein, aber Lust auf einen Ringkampf mit einem Grizzly habe ich dennoch nicht.«
Das für einen Moment vor ihrem geistigen Auge aufflackernde Bild von Jennings, der versuchte, einen Bären zu bezwingen, brachte sie zum Lächeln.
Zwei Stunden später erreichten sie den Ort, den Philipp für ihre Nachtruhe ausgesucht hatte. Die Lichtung war von hohen Tannen umstanden und wurde durch dichtes Gestrüpp geschützt, und in ihrer Mitte erhob sich ein Felsen, der aussah, als wäre er Gott bei der Schöpfung aus der Jackentasche gefallen.
Marie riss erschrocken die Augen auf. Die Ähnlichkeit zu dem Ort aus ihrem seltsamen Traum vor vielen Wochen war frappierend. Fehlte nur noch die Wolfsfrau, die von dem Felsen herunterkletterte und verzerrte Cree-Worte murmelnd auf sie zukam.
»Was ist mit Ihnen, Miss?«, fragte der Pelzhändler mit dem bestickten Halstuch, den die anderen Brian nannten. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Kein Wunder nach diesem Ritt!«, pflichtete der dritte Händler bei, ein Franzose namens Jacques, der sehr gutes, aber von schwerem Akzent geprägtes Englisch sprach.
»Mit mir ist alles in Ordnung!«, entgegnete Marie schnell, während sie versuchte, die Gefühle, die sie angesichts dieses Ortes überkamen, in den Griff zu bekommen. »Ich hatte nur eben einen Gedanken.«
»Dieser Gedanke muss aber ziemlich beunruhigend gewesen sein«, mischte sich Carter ein, der ihre Regung auch bemerkt hatte. »Sie sahen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Marie schüttelte den Kopf. »Mir war nur … Ich habe mich an einen Traum erinnert. Der Ort darin ähnelte diesem hier sehr.«
»So was kann vorkommen«, entgegnete Philipp schulterzuckend. »Manchmal träume ich auch von Orten, an die ich irgendwann komme. Ich glaube, die Götter geben uns damit einen Wink.«
»Von welchen Orten hast du denn geträumt?«, spottete Brian, der mitbekommen hatte, was Philipp zu ihr gesagt hatte.
»Von Orten, an die du wahrscheinlich nie kommen wirst, wenn du so weitermachst«, gab Philipp scherzhaft zurück.
»Nun, was mich angeht, bin ich mit den
Weitere Kostenlose Bücher