Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
vorbereiten. Behalten Sie ihn im Auge für den Fall, dass er sich übergibt. Wie ist das eigentlich genau passiert? Waren Sie dabei, als der Streit losbrach?«
Marie verneinte. »Ich bin zufällig vorbeigekommen, und da flog Mr Carter schon aus der Tür und gegen den Zaun.«
»Barbaren, allesamt!«, murmelte Duval, während er den Nadelhalter vorbereitete. »Ich frage mich in letzter Zeit immer häufiger, welcher Teufel mich geritten hat hierherzukommen.«
»Sie hatten gewiss einen sehr guten und edlen Grund.«
Marie erntete ein spöttisches Schnauben.
»Edler Grund! Reich werden wollte ich! Ich dachte, wenn ich es hier versuche, wo jedermann nach Gold sucht, werde ich es zu etwas bringen.«
»Wie ich sehe, ist Ihnen das gelungen.« Marie blickte sich in dem sauberen und modern eingerichteten Sprechzimmer um.
»Ja, durchaus. Aber für welchen Preis! Während meine Kollegen in Quebec sich mit gichtkranken Greisen beschäftigen, bekomme ich so was auf den Tisch.«
Trotz seiner offensichtlichen Erregung blieben seine Finger ruhig, als er mit der ersten Naht begann.
»Entweder wird jemand zusammengeschlagen, oder er fängt sich eine Kugel ein. Von den Unfällen im Sägewerk ganz zu schweigen. Erst letzte Woche hatte sich ein Patient die ganze Hand abgetrennt. Schöne Sauerei war das!«
»Vielleicht sind Ihre Kollegen mit den gichtkranken Greisen aber auch nicht zufrieden. Ihnen fehlt vielleicht das Abenteuer.«
Duval blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an, was wohl so etwas wie Missbilligung bedeutete.
»Auf Abenteuer wie diese kann ich wirklich gut verzichten! Und meine Kollegen werden, sollten sie so schwachsinnig sein, sich danach zu sehnen, auch bald einsehen müssen, dass es alles andere als großartig ist, mit Verletzungen zu tun zu bekommen, wie es sie sonst nur im Krieg gibt.«
Während der Arzt Stich um Stich setzte und schließlich die Naht verknotete, betrachtete Marie Philipp genauer. Auf dem Treck war ihr nicht aufgefallen, wie attraktiv er eigentlich war. Nicht einmal George Woodbury könnte mit ihm mithalten, trüge er nicht seine feinen Gehröcke.
»Ich würde ihn gern noch eine Stunde hierbehalten, bis der Laudanumrausch wieder aufgehört hat«, erklärte Duval, als er die Prozedur beendet hatte. »Hätten Sie was dagegen, hierzubleiben? Ich erwarte die nächsten Patienten in zehn Minuten und werde dann keine Zeit mehr haben, um nach ihm zu sehen.«
»Ich kann hierbleiben, wenn Sie das möchten«, erklärte Marie. »Wenn Sie bei einem Notfall zur Stelle sind.«
»Wenn Sie Hilfe brauchen, müssen Sie nur nach mir rufen. Aber bitte nicht bei jedem kleinen Seufzer, den er von sich gibt. Nur wenn eine der Wunden trotz der Stiche übermäßig blutet oder er beginnt, Blut zu husten. Ich habe keine inneren Verletzungen feststellen können, aber einen Milzriss bemerkt man leider erst wesentlich später.«
Damit ließ er Marie mit Carter allein.
Obwohl der Patient betäubt war, fühlte sie sich irgendwie beklommen. Da saß sie nun vor diesem Mann, den sie, je mehr Zeit verstrich, immer attraktiver fand, und fühlte sich wie ein Schulmädchen, das heimlich von seinem Lehrer schwärmte.
Ich muss irgendwas tun, dachte sie, während ihr Blick durch den Raum über die blutigen Instrumente, die Laudanum-Flasche und die Tücher am Boden schweifte.
»Rachel?«
Erschrocken blickte Marie auf. Carter hatte sich ein wenig zur Seite gedreht, seine Lider waren leicht geöffnet, während sich der Mund bewegte, als wollte er noch etwas sagen.
»Mr Carter?« Marie legte sanft die Hand auf seine Schulter. Seine Augen schlossen sich wieder, und seine Lippen hielten inne. Nur wenige Atemzüge später begann er leise zu schnarchen.
Wer war Rachel? Etwa sein Mädchen? Oder seine Schwester? Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte er nicht so gewirkt, als hätte er eine Braut.
Auf einmal wurde Marie wieder ganz beklommen zumute, ohne dass sie den Grund wusste. Stört es mich etwa, dass er vielleicht eine Verlobte haben könnte?, dachte sie kopfschüttelnd. Ich bin doch selbst verlobt. Trotzdem ging ihr diese Frage nicht aus dem Sinn.
25. Kapitel
Tagelang lag ich fiebernd im Bett. Das geplatzte Trommelfell entzündete sich und bereitete mir so furchtbare Schmerzen, dass ich mir manchmal wünschte zu sterben. Dass mich Peter an meinem Krankenbett besuchte, bekam ich ebenso wenig mit wie die mitleidigen Blicke Mariannes, von denen mir Peter später erzählte. Mein Vater ließ sich nicht blicken. Er
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