Das Lied des Achill
ich.
Er sah mir eindringlich in die Augen und suchte nach einer Antwort.
»Wünschst du es dir?«, fragte er sichtlich angespannt. Eifersucht war ihm fremd. Aber er war verletzt, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kam mir grausam vor und bereute, ihn mit meinen Gedanken behelligt zu haben.
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht. Nein.«
»Wenn du es willst, wäre es in Ordnung.« Er sprach mit Bedacht, versuchte, gerecht zu sein.
Ich dachte wieder an das dunkelhaarige Kind. Ich dachte an Achill.
»Es ist gut so, wie es ist«, sagte ich.
Die Erleichterung in seinem Ausdruck tat mir gut.
In der Folgezeit schien mich Brisëis zu meiden. Ich aber hielt an unserer Gewohnheit fest und holte sie ab, um mit ihr spazieren zu gehen. Wir unterhielten uns über Heilkunde und das, was im Lager geschah. Über Kinder oder ein Leben als Mann und Frau redeten wir nicht. Wenn sie mich anschaute, sah ich immer noch die gleiche Sanftheit ihrer Augen. Ich gab mir Mühe, ihr mit ähnlich sanften Blicken zu begegnen.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
E s war im neunten Jahr, als eines Tages wieder einmal ein Mädchen aufs Podest gezerrt wurde. Man hatte sie offenbar misshandelt, denn das halbe Gesicht war grün und blau geschlagen. In ihren Haaren flatterten Bänder, die sie als Gottesdienerin auswiesen. Ich hörte jemanden sagen, dass sie die Tochter eines Priesters sei. Achill und ich schauten einander an.
Obwohl schrecklich zugerichtet, war sie schön: große, haselnussbraune Augen in einem runden Gesicht, kastanienfarbene Haare, die ihr in weichen Wellen auf die Schultern fielen, mädchenhaft schlank. Als wir sie betrachteten, füllten sich ihre Augen wie dunkle Tümpel, die über die Ufer gingen. Tränen rollten ihr über die Wangen und tropften vom Kinn zu Boden. Sie konnte sie nicht wegwischen, ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt.
Von den Männern begafft, richtete sie den Blick im Stoßgebet zum Himmel. Ich stieß Achill an. Er nickte, doch bevor er sie für sich beanspruchen konnte, trat Agamemnon vor. Er legte eine Hand auf ihre zarte, gebeugte Schulter. »Das ist Chryseis«, sagte er. »Sie gehört mir.« Dann zerrte er die junge Frau vom Podest und führte sie in sein Zelt. Ich sah, wie der Priester Kalchas die Stirn runzelte und Anstalten machte, Widerspruch einzulegen. Doch er hielt sich zurück, und Odysseus setzte die Verteilung fort.
Etwa einen Monat später kam der Vater des Mädchens. Er wanderte über den Strand, gestützt auf einem vergoldeten und mit bunten Bändern umwickelten Stab. Er hatte ein breites, knochiges Gesicht und trug einen Bart nach der Art anatolischer Priester. In seinen langen Haaren waren Bänder befestigt, passend zu denen seines Stabs. Sein langes, aus roten und goldenen Stoffbahnen gefertigtes Gewand flatterte um seine Beine. Ihm folgten zwei Gehilfen, die eine große Holztruhe schleppten und Mühe hatten, Schritt zu halten.
Die kleine Prozession passierte die Zelte von Ajax, Diomedes und Nestor und näherte sich der Agora. Von anderen informiert, eilten Achill und ich hinzu, und als wir zur Stelle waren, hatte der Priester bereits das Podest bestiegen. Er stand dort mit stolz erhobenem Kinn und nahm von Agamemnon und Menelaos, die auf ihn zutraten, keine Notiz. Die beiden zeigten sich verärgert über dessen anmaßende Haltung, warteten jedoch erst einmal ab.
Aus allen Ecken des Lagers waren Soldaten zusammengelau fen, denn der ungewöhnliche Besuch hatte sich schnell he rumgesprochen. Der Priester ließ seinen Blick über die Menge schweifen und richtete ihn schließlich auf die Söhne des Atreus, die vor ihm auf dem Podest standen.
Er sprach mit volltönender Stimme, nannte seinen Namen – Chryses – und stellte sich mit erhobenem Stab als Hohepriester des Apoll vor. Dann zeigte er auf die Truhe, die, von seinen Gehilfen inzwischen geöffnet, einen glitzernden Schatz aus Gold, Edelsteinen und Bronze barg.
»Was führt dich zu uns, Priester Chryses?«, fragte Menelaos, der offenbar an sich halten musste. Trojaner hatten nicht auf die Podeste der griechischen Könige zu steigen und unaufgefordert das Wort zu ergreifen.
»Ich bin gekommen, um meine Tochter Chryseis freizukaufen«, antwortete der Priester. »Sie, ein junges Mädchen mit Bändern im Haar, wurde von euch, den Griechen, aus unserem Tempel geraubt. Ihr habt Unrecht begangen.«
Gemurmel wurde laut. Bittsteller hatten demütig niederzuknien. Was fiel ihm ein, dass er unseren Königen die Stirn bot
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