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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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bedeuten?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. Es schien, als wollte sie ihn mit ihren großen schwarzen Augen in sich aufsaugen. »Ich fürchte eine Intrige.« Die Schicksalsgöttinnen waren bekannt für ihre Rätsel, die bis zum Schluss ungelöst blieben, dann aber zur bitteren Erkenntnis führten.
    »Sei wachsam«, sagte sie. »Du musst auf der Hut sein.«
    »Das bin ich«, erwiderte er.
    Erst jetzt richtete sie ihren Blick auf mich. Wie von einem üblen Gestank belästigt, rümpfte sie die Nase. »Er ist deiner nicht würdig«, zischte sie. »Er ist es nie gewesen.«
    »Wir sind da unterschiedlicher Meinung«, entgegnete Achill gelassen und wie zum wiederholten Male. Vielleicht hatte er ihr schon häufiger so geantwortet.
    Mit einem verächtlichen Schnauben löste sie sich in Luft auf.
    »Sie fürchtet sich«, sagte Achill.
    »Das scheint mir auch so.« Ich räusperte mich und versuchte die Angst, die mir wie ein Kloß im Hals steckte, herunterzuschlucken.
    »Wer ist deiner Meinung nach der beste Myrmidone? Von meiner Person abgesehen.«
    Auf Anhieb kam mir Automedon in den Sinn, der sich an der Seite Achills wie kaum ein anderer in der Schlacht bewährt hatte. Doch als der beste war er beileibe nicht zu bezeichnen.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
    »Ob mein Vater gemeint sein könnte?«, fragte er.
    Peleus, der in Phthia zurückgeblieben war, hatte mit Herakles und Perseus gekämpft. Er war eine Legende und beispielhaft für seine Frömmigkeit und seinen Mut. »Vielleicht.«
    Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, wir werden es bald wissen.«
    »Du bist es jedenfalls nicht«, sagte ich. »Und darauf kommt’s an.«
    Am Nachmittag kamen wir dem Rat seiner Mutter nach. Die Myrmidonen errichteten Scheiterhaufen für die Brandopfer. Ich hielt die Schalen für das Blut, während Achill Kehle um Kehle aufschlitzte. Die besten Fleischstücke verbrannten wir mit Gerste und Granatäpfeln, und in die glühenden Kohlen schütteten wir unseren besten Wein. Apoll ist erzürnt , hatte sie gesagt. Einer unserer mächtigsten Götter, der Gott der Bogenschützen, dessen Pfeile schneller waren als das Licht. Obwohl nicht besonders fromm, pries ich ihn an diesem Tag mit einer Inbrunst, die der von Peleus wahrscheinlich in nichts nachstand. Und für den besten der Myrmidonen schickte ich ein Stoßgebet zu den Göttern.
    Brisëis bat mich, sie im Heilen zu unterrichten, und versprach im Gegenzug, mir beizubringen, was sie über die Wirkung der heimischen Gewächse wusste. Das war mir sehr willkommen, weil Machaons Vorräte zur Neige gingen, und so verbrachten wir viele angenehme Tage im Wald, sammelten Kräuter und pflückten unter modernden Hölzern Pilze, die so zart und weich waren wie die Ohren von Säuglingen.
    Manchmal streifte ihre Hand dabei versehentlich meine. Dann blickte sie auf und lächelte. Wassertropfen hingen von ihren Ohren herab und in ihren Haaren wie Perlen. Sie hatte den langen Schurz um die Knie gewickelt und die Füße entblößt, die ebenso hübsch wie trittsicher waren.
    An einem dieser Tage machten wir Rast, um zu Mittag zu essen. Wir teilten uns Brot, Käse und Streifen getrockneten Fleisches und schöpften mit den Händen Wasser aus dem Bach. Es war Frühling, und seit drei Wochen zeigte sich das fruchtbare Land in seiner ganzen Pracht. Knospen sprangen auf und entfalteten Blüten in allen Farben. Es war für mich die schönste Zeit des Jahres, wenn sich die Natur, von diesem Aufruhr fast erschöpft, auf das ruhigere Wirken des Sommers einstellte.
    Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich erzählte ihr gerade eine Geschichte – vielleicht etwas von Cheiron –, und sie hörte mir aufmerksam zu, die dunklen Augen ins Leere gerichtet. Als ich fertig war, blieb es lange still zwischen uns, was nichts Ungewöhnliches war, da sie häufig schwieg. Wir saßen so dicht beieinander, die Köpfe verschwörerisch zusammengesteckt, dass ich die Frucht riechen konnte, die sie gerade gegessen hatte. Ich nahm den Duft des Rosenöls wahr, das noch, für die anderen Mädchen gepresst, an ihren Fingern klebte, und mir wurde wieder einmal bewusst, wie lieb ich sie hatte, dieses ernste Gesicht mit den Mandelaugen. Ich stellte sie mir vor, wie sie als Mädchen auf Bäume geklettert und auf ihren dünnen Beinen mit anderen um die Wette gerannt war, und wünschte, sie schon damals gekannt zu haben, als ich noch im Haus meines Vaters gewohnt und mit meiner Mutter Steine übers Wasser hatte hüpfen

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