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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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war heiter. Man saß zusammen, lachte und hörte des Nachts Laute des Vergnügens, und so mancher Myrmidone wurde zum stolzen Vater.
    Bald saß nur noch Brisëis mit uns am Feuer. Obwohl so schön wie eh und je und von vielen umworben, verzichtete sie auf Liebschaften. Stattdessen wurde sie zu einer Art Tante, die Süßigkeiten verteilte, Liebestropfen und weiche Tücher zum Trocknen der Augen bereithielt. Wenn ich mich an die Nächte vor Troja erinnere, sehe ich Achill an meiner Seite, Phoinix mit schmunzelndem Gesicht, Automedon, der einen Witz zu erzählen versucht und die Pointe verhunzt, und Brisëis mit ihren schwarzen Haaren, heimlichen Blicken und dem fröhlichen Lachen.
    Es war noch dunkel, als ich eines frühen Morgens frierend erwachte. An diesem Tag sollten die Ernte gefeiert und dem Gott Apoll zum Dank die ersten Früchte gewidmet werden. Achill schlief noch. Sein Körper strahlte eine wohlige Wärme aus. Im Dunklen sah ich nur die Umrisse seines Gesichts, das markante Kinn und die sanft geschwungenen Brauen. Ich wollte ihn wecken und ihm in die Augen blicken, denn daran konnte ich mich nicht sattsehen.
    Liebkosend fuhr ich mit meiner Hand über seine Brust. Wir hatten beide an Kraft gewonnen, er im Kampf auf dem Feld, ich durch meine Arbeit im Lazarett. Manchmal überraschte mich mein eigener Anblick. Ich war inzwischen ein Mann, in den Schultern so breit wie mein Vater damals, insgesamt aber sehr viel schlanker.
    Die Berührung seiner Haut entfachte Lust in mir. Ich schlug das Laken zur Seite, um ihn ganz zu sehen, beugte mich über ihn und bedeckte ihn mit Küssen.
    Es dämmerte. Das erste Morgenlicht drang durch die Zeltbahnen. Er schlug die Augen auf und schaute mich an. Unsere Glieder verschlangen sich ineinander wie von selbst und in erprobter Weise, und doch war es immer wieder neu für uns.
    Später saßen wir beieinander und frühstückten. Wir hatten das Zelt geöffnet, um frische Luft hineinzulassen, die angenehm über unsere feuchte Haut strich. Draußen sahen wir die Myrmidonen bei ihren allmorgendlichen Verrichtungen. Automedon lief zum Strand, um ein Bad zu nehmen. Das Meer war noch warm von einem Sommer voller Sonne.
    Sie kam nicht durch die Tür. Sie war einfach plötzlich da, mitten im Zelt. Erschrocken schnappte ich nach Luft und zog meine Hand, die auf Achills Knie lag, zurück, obwohl mir im selben Augenblick klar war, dass ich mich kindisch verhielt. Sie war eine Göttin und konnte uns sehen, wann immer sie wollte.
    »Mutter«, grüßte er.
    »Ich muss dich warnen.« Die Worte knirschten wie ein Knochen, der zerbissen wird. Im Halbdunkel des Zelts schimmerte ihre Haut kalt und hell. Ich sah jede scharfe Linie ihres Gesichtes, jede Falte des leuchtenden Gewandes ganz genau. So nah hatte sie schon lange nicht mehr vor mir gestanden, seit Skyros nicht. Ich hatte mich seitdem verändert, an Kraft und Größe zugenommen, und wenn ich mich nicht rasierte, wuchs mir ein Bart. Sie aber hatte sich nicht verändert. Natürlich nicht.
    »Apoll ist erzürnt und will gegen die Griechen vorgehen. Wirst du ihm heute opfern?«
    »Ja«, antwortete Achill. Wir hielten uns immer an die Festtagsriten, schnitten den Opfertieren die Kehle auf und brieten ihr Fett.
    »Das musst du auch«, sagte sie, die Augen auf ihren Sohn geheftet. Von mir schien sie keine Notiz zu nehmen. »Eine Hekatombe.« Also hundert Schafe oder Rinder. Nur die reichsten und mächtigsten Männer konnten sich eine solche Opfergabe leisten. »Nicht weniger. Und richte dich nicht danach, was die anderen tun. Die Götter ergreifen Partei, und du solltest dich hüten, sie zu verärgern.«
    All diese Tiere zu schlachten würde, wenn jeder mithalf, einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, und im Lager würde es eine ganze Woche lang wie in einem Leichenhaus stinken. Achill aber nickte. »Wir werden deinen Rat befolgen.«
    Sie presste die Lippen aufeinander, rote Striche, die wie Wundränder aussahen.
    »Noch etwas«, sagte sie.
    Obwohl sie mich nicht anschaute, machte sie mir Angst. Für mich war sie die Ausgeburt böser Omen und drohender Katastrophen.
    »Ich höre.«
    Ihr Zögern spannte mich auf die Folter. »Der beste Myrmidone wird sterben, ehe zwei weitere Jahre vergangen sind.«
    Achill rührte keine Miene. »Wir wussten, dass es irgendwann geschehen muss«, entgegnete er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Der Prophezeiung nach wirst du noch am Leben sein, wenn das passiert.«
    Achill krauste die Stirn. »Was hat das zu

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