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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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wiederholte er und ließ durch nichts erkennen, dass er an meiner Antwort zweifelte. Ich entspannte mich ein wenig. Ich war damals noch ein kleiner Junge gewesen und hatte mich inzwischen so sehr verändert, dass er mich unmöglich wiedererkennen konnte.
    »Nun, Cheironides, Agamemnon verspricht allen, die für ihn kämpfen, Gold und Ruhm. Der Krieg wird nicht lange dauern. Du wärst bis zum nächsten Herbst wieder zurück. Überleg’s dir. Ich bleibe noch ein paar Tage und hoffe, du hast dich bis zu meiner Abfahrt entschieden.« Er ließ die Hände auf die Knie fallen und stand auf.
    »War es das?« Ich hatte damit gerechnet, dass er mich zu überreden versuchte oder mir gar Druck machte.
    Er lachte freundlich. »Ja, das war’s. Ich nehme an, wir sehen uns beim Abendessen.«
    Ich nickte. Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Seltsam, mir ist, als wären wir uns irgendwann schon einmal begegnet.«
    »Das bezweifle ich«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich kenne dich jedenfalls nicht.«
    Er betrachtete mich einen Augenblick lang, zuckte dann mit den Schultern und sagte: »Dann muss ich dich wohl mit einem anderen jungen Mann verwechseln. Tja, es scheint wohl so zu sein, wie man sagt. Je älter man wird, desto schlechter kann man sich erinnern.« Er kratzte sich nachdenklich am Bart. »Wer ist dein Vater? Vielleicht kenne ich ihn.«
    »Er hat mich verbannt.«
    Er setzte eine traurige Miene auf. »Das tut mir leid. Woher stammst du?«
    »Von der Küste.«
    »Norden oder Süden?«
    »Süden.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte schwören können, du wärst aus Thessalien oder Phthia. Du formulierst die Vokale genau so wie das Volk im Norden.«
    Ich schluckte. In Phthia wurden die Konsonanten härter ausgesprochen, die Vokale in die Länge gezogen, was mir immer missfallen hatte, außer wenn ich Achill reden hörte. Mir war nicht aufgefallen, wie sehr ich diese Art zu sprechen mittlerweile selbst angenommen hatte.
    »Das – das wusste ich nicht«, murmelte ich. Mein Herz pochte. Wenn er doch bloß ginge.
    »Es ist immer wieder dasselbe mit mir, ich zerbreche mir über unwichtige Dinge den Kopf.« Er schmunzelte wieder. »Vergiss nicht, mich über deine Entscheidung zu informieren. Und vielleicht kennst du andere junge Männer, die bereit wären, sich uns anzuschließen.« Er zog die Tür hinter sich zu.
    Der Gong zum Abendessen erklang, und die Gänge waren voller Dienstboten, die Geschirr und Stühle trugen. Als ich die Halle betrat, war mein Besucher schon zugegen. Er unterhielt sich mit Lykomedes und einem anderen Mann.
    »Cheironides«, grüßte der alte König. »Das ist Odysseus, der Herrscher von Ithaka.«
    »Gott sei Dank gibt es Gastgeber. Erst als ich deine Kammer verließ, fiel mir auf, dass ich dir meinen Namen nicht nannte«, sagte Odysseus.
    Und ich habe nicht nach deinem Namen gefragt, weil ich ihn bereits kannte . Ein Fehler, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Ich sperrte die Augen auf. »Du bist ein König?« Ich fiel auf die Knie und gab mich ehrerbietig und überrascht zugleich.
    »Um genau zu sein, ist er nur ein Prinz«, meldete sich eine schleppende Stimme. »Der König bin ich.« Ich blickte auf und schaute dem dritten Mann in die Augen. Sie waren hellbraun, fast grell und scharf. Er trug einen kurzen schwarzen Bart, der sein keilförmiges Gesicht und das spitze Kinn betonte.
    »Das ist Diomedes, König von Argos«, sagte Lykomedes. »Ein Waffenbruder des Odysseus.« Und ein weiterer ehemaliger Bewerber um Helenas Hand, obwohl ich mich nicht an seinen Namen erinnern konnte.
    »Mein Herr.« Ich verbeugte mich vor ihm, ohne bange sein zu müssen, dass er mich erkannte, denn er hatte sich bereits abgewendet.
    Die Speisen wurden aufgetragen und Lykomedes bat zu Tisch.
    Mit uns am Tisch saßen mehrere Berater von Lykomedes, und ich war froh, zwischen ihnen verschwinden zu können. Odysseus und Diomedes unterhielten sich mit dem König und beachteten uns kaum.
    »Wie stehen die Dinge in Ithaka?«, erkundigte sich Lykomedes höflich.
    »Bestens«, antwortete Odysseus. »Ich habe meine Frau und unseren Sohn dort zurückgelassen. Sie sind wohlauf und gesund.«
    »Stell ihm Fragen zu seiner Frau«, sagte Diomedes. »Er spricht liebend gern von ihr. Weißt du, wie er sie kennengelernt hat? Das ist seine Lieblingsgeschichte.« Er verhehlte kaum, dass er sich lustig zu machen versuchte.
    Lykomedes ließ seinen Blick zwischen beiden hin und her wandern. »Und? Wie hast du deine Gemahlin

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