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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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zerknittert von der Reise, schien sich zu glätten und leuchtete so weiß und rein wie ein Segel.
    Jubelstürme erfüllten die Luft. Thetis , dachte ich. Es konnte nicht anders sein. Sie ließ ihren Sohn in seiner Göttlichkeit und seinem Ruhm erstrahlen.
    Ich sah, wie ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte, er genoss es. Später erzählte er mir, dass er von diesem Empfang überrascht worden sei. Doch er stellte ihn nicht in Frage. Es schien, dass er ihn im Nachhinein als durchaus angemessen erachtete.
    Die Menge öffnete ihm eine Gasse hin zu den versammelten Fürsten. Jeder ankommende Prinz hatte sich vor ihnen und dem neuen Oberbefehlshaber zu melden. Nun war Achill an der Reihe. Er verließ das Schiff, passierte das Spalier rempelnder Männer und blieb drei oder vier Schritte vor den Königen stehen. Ich hielt Abstand.
    Agamemnon wartete auf uns. Seine Nase war scharf und gebogen wie ein Adlerschnabel, die Augen glitzerten hellwach und gierig. Mit seiner breiten Brust und den stämmigen Beinen wirkte er überaus kraftvoll, aber auch abgekämpft. Wir wussten, dass er vierzig Jahre alt war, doch er sah älter aus. Auf seiner rechten, der Ehrenseite standen Odysseus und Diomedes, links von ihm sein Bruder Menelaos, der König von Sparta und Anlass des Krieges. Seine roten Haare, die mir aus Tyndareos’ Halle in Erinnerung geblieben waren, hatten einen grauen Schimmer angenommen. Er war so groß und grobschlächtig wie sein Bruder und hatte Schultern so breit wie ein Ochsenjoch. Das Familienerbe, die dunklen Augen und die Hakennase, hatten bei ihm einen weicheren, gemäßigteren Anschein. Sein Gesicht wirkte im Unterschied zu dem des Bruders heiter und angenehm.
    Von den anderen Königen erkannte ich nur einen wieder, nämlich Nestor. Er war ein alter Mann mit einem schütteren weißen Kinnbart und scharfen Augen in einem welken Gesicht. Es hieß, dass er der älteste lebende Mensch sei und zahllose Schlachten und Gefechte überlebt hatte. Er herrschte über Pylos, einen kargen Landstrich, und hielt stur an seinem Thron fest zur Enttäuschung Dutzender Söhne, die immer älter wurden, während er, der für seine nicht versiegende Manneskraft berühmt war, stets weitere Kinder zeugte. Zwei seiner Söhne hielten ihn gestützt und drängten andere, die vor ihnen standen, beiseite. Der Alte begaffte uns mit offenem Mund und schien an dem, was er sah, Gefallen zu finden.
    Agamemnon trat vor. Er hieß uns, indem er die Arme öffnete, willkommen und wartete auf ein Zeichen der Ehrerbietung, darauf, dass Achill niederkniete und sich verbeugte.
    Doch Achill tat nicht, was von ihm erwartet wurde. Weder kniete er nieder, noch verbeugte er sich oder bot dem König ein Geschenk an. Er stand einfach nur aufrecht da mit stolz erhobenem Kinn.
    Agamemnon biss die Zähne aufeinander. Er sah lächerlich aus mit seinen ausgestreckten Armen und schien sich dessen bewusst zu sein. Mein Blick streifte Odysseus und Diomedes, die sichtlich verstört reagierten. Eine bedrohliche Stille machte sich breit.
    Meine Hände verkrampften sich hinter meinem Rücken, während ich Achills verwegenen Auftritt beobachtete. Seine Miene war wie versteinert, eine stumme Drohung, mit der er den König von Mykene wissen ließ: Du kommandierst mich nicht . Die Stille setzte sich fort, qualvoll und atemlos, wie bei einem Sänger, dem die Luft ausgegangen war.
    Odysseus trat vor und wollte das Wort ergreifen, als Achill endlich sprach. »Ich bin Achill, Sohn des Peleus und von göttlicher Geburt, der beste aller Griechen«, sagte er. »Ich bin gekommen, um den Sieg für dich zu erringen.« Es wurde wieder für eine Weile still, doch plötzlich brach Jubel aus. Stolz kam über uns – Helden waren schließlich nie bescheiden.
    Agamemnon zeigte keine Regung. Odysseus war nun zur Stelle. Er legte seine Hand auf Achills Schulter, krallte die Finger in sein Gewand und sagte mit ruhiger Stimme: »Agamemnon, Herr der Menschen, wir haben Prinz Achill gebracht, der dir Treue schwört.« Er warnte Achill mit seinem Blick – noch ist es nicht zu spät. Doch Achill lächelte bloß und trat einen Schritt vor, um Odysseus’ Hand abzuschütteln.
    »Ich bin aus freien Stücken gekommen und biete dir meine Unterstützung an«, sagte er laut. Dann wandte er sich der Menge zu: »Es ehrt mich, an der Seite so vieler edler Krieger zu kämpfen.«
    Wieder wurde gejubelt, laut und ausdauernd. Schließlich ergriff Agamemnon das Wort. Es war ihm anzumerken, dass er nur mit Mühe

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