Das Lied des Achill
Rüstzeug. Sogar das Meer stand still. Keine Welle schwappte ans Ufer, und die Wasseroberfläche schimmerte wie ein polierter Bronzespiegel.
Erst jetzt fiel mir auf, dass kein Wind wehte. Daher rührte diese sonderbare Stille. Nicht das geringste Lüftchen regte sich. Wenn das so bleibt, werden wir morgen nicht auslaufen können, dachte ich.
Ich wusch mein Gesicht mit kühlendem Wasser, kehrte zu Achill zurück und versuchte zu schlafen.
Am frühen Morgen erwache ich in einer Lache aus Schweiß. Meine Haut fühlt sich wie gesotten an. Dankbar trinke ich das Wasser, das uns Automedon bringt. Achill öffnet die Augen und fährt mit der Hand über die nasse Stirn. Er kneift die Brauen zusammen, geht nach draußen und kommt zurück.
»Kein Wind.«
Ich stimme ihm kopfnickend zu.
»Wir können heute nicht fahren.« Unsere Ruderknechte sind kräftig, aber selbst sie schaffen es nicht, einen ganzen Tag lang an den Riemen durchzuhalten. Wir brauchen Wind, um nach Troja zu gelangen.
Er bleibt aus. Und das nicht nur an diesem Tag, sondern auch am folgenden. Agamemnon ist gezwungen, auf der Agora zu verkünden, dass es zu einer weiteren Verzögerung kommt. Sobald die Winde wieder auffrischen, werden wir aufbrechen, verspricht er uns.
Aber sie frischen nicht wieder auf. Stattdessen herrscht unerbittliche Hitze. Die Luft fühlt sich an wie Feuershauch, der unsere Lungen ausdörrt. Der Sand wird zu glühenden Kohlen. Die Stimmung kippt, es kommt zu Schlägereien. Achill und ich verbringen die meiste Zeit im Wasser, um uns ein wenig Kühlung zu verschaffen.
Die Tage ziehen ins Land, unsere Sorgen nehmen zu. Zwei Wochen ohne Wind sind nicht natürlich, doch Agamemnon unternimmt nichts. Schließlich sagt Achill: »Ich werde mit meiner Mutter sprechen.« Mir bleibt nichts anderes übrig, als schwitzend im Zelt auf ihn zu warten. Als er zurückkehrt, erklärt er: »Es sind die Götter.« Aber seine Mutter will nicht – oder kann nicht – sagen, wer genau.
Wir gehen zu Agamemnon. Er hat Hitzeflecken im Gesicht und ist voller Wut – auf das Wetter, sein unruhiges Heer und auf alle, die ihm Ratschläge zu erteilen versuchen. »Du weißt, meine Mutter ist eine Göttin.«
Agamemnon schnaubt. Odysseus legt ihm eine beruhigende Hand auf die Schulter.
»Sie sagt, dass kein Wind weht, sei ein Zeichen der Götter.«
Agamemnon will es nicht hören. Er blickt finster drein und entlässt uns.
Ein Monat vergeht, ein Monat fiebernden Schlafs und drückend heißer Tage. Die Gesichter der Männer sind vom Zorn gezeichnet, aber es kommt zu keinen Schlägereien mehr – dafür ist es zu heiß. Sie liegen im Schatten herum und hassen einander.
Noch ein Monat vergeht. Ich fürchte, wir werden alle wahnsinnig und ersticken an der reglosen Luft. Wie lange kann das so noch weitergehen? Es ist schrecklich: der grelle Himmel, der uns niederdrückt, die Hitze, die uns den Atem nimmt. Selbst wir, Achill und ich, allein in unserem Zelt und bemüht, uns mit Spielen die Zeit zu vertreiben, fühlen uns ohnmächtig und ausgeliefert. Wann wird es enden?
Endlich kommt Nachricht. Agamemnon hat mit dem Priester Kalchas gesprochen. Kalchas ist ein kleiner Mann mit einem braunen Bart voller Lücken, ein hässlicher Kerl mit einem Gesicht so spitz wie das eines Wiesels. Bevor er spricht, fährt er sich pausenlos mit der Zunge über die Lippen. Noch unangenehmer sind seine hellblauen, stechenden Augen. Man schreckt unwillkürlich vor ihnen zurück. Er ist eine Missgeburt und kann von Glück reden, dass er nicht schon als Säugling getötet wurde.
Kalchas glaubt, die Göttin Artemis fühle sich von uns beleidigt. Aus welchem Anlass, sagt er nicht. Dafür rät er uns das Übliche, nämlich ein Opfer darzubringen. Tiere werden ausgewählt und Honigwein angesetzt. Während der nächsten Lagebesprechung verkündet Agamemnon, dass er seine Tochter eingeladen hat, die Opferriten durchzuführen. Sie ist eine Priesterin der Artemis und die jüngste Frau, die je mit diesem Amt betraut wurde. Vielleicht kann sie die zürnende Göttin beschwichtigen.
Dann erfahren wir, dass seine Tochter nicht nur zur Durchführung der Zeremonie aus Mykene zu uns kommt, sondern auch, um einen der Könige zu heiraten. Vermählungen verheißen Glück; sie stimmen die Götter gnädig. Vielleicht wird das helfen.
Agamemnon ruft Achill und mich in sein Zelt. Seine Haut ist faltig und sein Gesicht geschwollen, man sieht ihm an, dass er nächtelang nicht geschlafen hat. Neben ihm sitzt
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