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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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Agamemnon zu den Arbeiten aufrief, war ich mir sicher, dass die Männer den eigentlichen Zweck dieses Kraftakts durchschauten. In all den zurückliegenden Jahren waren das Lager und die Schiffe nie gefährdet gewesen. Wozu nun diese Befestigungsanlage? Zumal kein Mensch an Achill vorbeikam –.
    Dann aber trat Diomedes vor. Er begrüßte den Plan und schüchterte die Männer mit der Schilderung von Schreckensbildern nächtlicher Überfälle und brennender Schiffe ein. Vor allem Letzteres war besonders wirksam – ohne Schiffe würden wir nicht nach Hause zurückkehren können. Am Ende waren alle überzeugt, und voller Tatendrang zogen sie mit Beilen in den Wald. Odysseus machte den Unruhestifter, einen Mann namens Thersites, ausfindig und ließ ihn bis zur Besinnungslosigkeit auspeitschen.
    Aufbegehrt wurde fortan nicht mehr.
    Der Bau des Palisadenzauns und die Abwendung innerer Bedrohung führten zu großen Veränderungen insgesamt. Wir alle, von einfachen Fußsoldaten bis hin zu den Anführern, betrachteten das Lager mehr und mehr als unser Zuhause. Aus der Invasion war eine Belagerung geworden. Hatten wir bislang als Räuberhorden Dörfer und Gutshöfe der Umgebung überfallen, fingen wir nun selbst zu bauen an, nicht nur die Schutzmauer, sondern auch all das, was eine Stadt zu einer Stadt machte: eine Schmiede, eine Koppel für das gestohlene Vieh und sogar eine Töpferwerkstatt, die notwendig wurde, weil das mitgebrachte Geschirr entweder zu Bruch gegangen oder voller Sprünge und nicht mehr zu gebrauchen war. Auch viele andere Gebrauchsgegenstände hatten sich längst abgenutzt und mussten ersetzt werden. Von der Zeit unberührt schienen einzig das Rüstzeug und die polierten Insignien der Könige zu sein.
    Auch die Männer veränderten sich. Die Mitglieder unterschiedlicher Heere wuchsen zu einer großen Gruppe zusammen. Von Aulis noch als Kreter, Zyprioten oder Argiver aufgebrochen, verstanden sich jetzt alle als Griechen, vereint in der Absicht, Troja zu erobern. Und dass sie Speisen, Frauen und Kleider miteinander teilten, schien alle Unterschiede zu verwischen. Agamemnons Behauptung, Griechenland zu vereinen, war letztlich doch nicht nur Prahlerei, denn der Gemeinschaftssinn – früher unter den rivalisierenden Königreichen undenkbar – dauerte über Jahre hinaus an, und es sollte unter denen, die um Troja gekämpft hatten, zu keinem Krieg mehr kommen.
    Die Veränderungen machten auch vor mir nicht halt. Im Laufe der sechs, sieben Jahre verbrachte ich mehr Zeit in Machaons Zelt als an der Seite Achills auf dem Feld. So lernte ich einen Patienten nach dem anderen kennen. Irgendwann kam jeder zu uns, um versorgt zu werden, und sei es nur wegen eines verstauchten Knöchels oder eingewachsener Zehennägel. Auch Automedon musste einmal verarztet werden, weil ihm eine dicke Eiterbeule auf der Hand zu schaffen machte. Aufgeregte Männer brachten ihre schwangeren Sklavenfrauen zur Entbindung. Wir halfen bei der Geburt zahlloser Kinder und kurierten später deren Blessuren.
    Und es waren nicht nur die einfachen Soldaten, die uns aufsuchten, sondern auch manche Könige. Nestor holte sich jeden Abend seinen Hustensaft ab, den wir ihm verordnet hatten. Menelaos nahm Opium gegen seine Kopfschmerzen, Ajax litt an einem übersäuerten Magen. Ihr Vertrauen auf Heilung und Trost rührte mich. Ich fing an, sie zu mögen, unabhängig davon, wie sie sich in den Ratssitzungen aufführten.
    Mein Ansehen im Lager nahm zu. Man verlangte nach mir, ich war bekannt für meine geschickten Hände, die, wie sich herumgesprochen hatte, nur wenig Schmerzen bereiteten. Podaleirios ließ sich nur noch selten im Zelt blicken, denn nun war ich es, der Machaon vertrat.
    Es überraschte Achill, wie viele mich herzlich grüßten und mir für ihre Heilung dankten, wenn wir durchs Lager gingen. »Erstaunlich, dass du dich an jeden Einzelnen erinnerst«, sagte er. »Für mich sehen sie alle gleich aus.«
    Ich lachte und versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Das da ist Sthenelos, der Wagenlenker von Diomedes, und da drüben siehst du Podarkes, den Bruder unseres ersten Gefallenen. Erinnerst du dich?«
    »Ich gebe mich geschlagen«, sagte er. »Es ist einfacher, wenn sie sich an mich erinnern.«
    Unser Kreis am Lagerfeuer wurde kleiner, denn ein Mädchen nach dem anderen nahm sich einen Myrmidonen zum Geliebten und dann zum Ehemann. Sie brauchten uns nicht mehr und hatten ihre eigene Familie, worüber wir froh waren. Die Stimmung im Lager

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