Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
Mund genommen und ihr kühlen Wein eingeflößt hatte. An das, was danach geschehen war, hatte sie nur verschwommene Erinnerungen. Irgendwann war die Nacht hereingebrochen, und sie war in einen Schlaf gefallen, der von wirren Träumen durchgeistert wurde. Inzwischen war es hell geworden, und durch die beiden Fenster fiel das blasse Morgenlicht.
Mühsam richtete Alyss sich auf und sah sich um. Die Vorhänge des hohen Pfostenbettes waren nicht geschlossen, die silbernen Leuchter auf dem Kaminsims schimmerten, die Farben der Gobelins leuchteten wie am Vortag, über der Bank in der Fensternische lag eine silbergraue Pelzdecke, auf dem Tisch davor stand ein tönerner Krug und ein Becher. Ein Waschgeschirr aus Zinn befand sich halb verborgen hinter einem Wandschirm. Ein kostbar eingerichtetes Gefängnis, ohne Zweifel. Eines, aus dem es kein Entkommen gab. Sie zwang ihre seltsam schweren Beine, sich aus dem Bett zu begeben, stieß die Decke von sich und stand fröstelnd auf. Sie musste sich jedoch an den Bettpfosten festhalten, um nicht zu fallen, ihr war schwindelig und leicht übel. Aber sie schaffte es schließlich bis zur Nische und blickte in den Krug. Wein enthielt er, und dankbar füllte sie den Becher, um den entsetzlichen Geschmack in ihrem Mund herunterzuspülen. Dann schaute sie aus dem Fenster, das mit grünlichen Butzenscheiben verglast war. Viel konnte man durch das schlierige Glas nicht sehen, doch eines erkannte sie – sie befand sich hoch oben in einem Turm, der ziemlich gewiss zu einer Burg oder einem großen Anwesen gehörte.
Das Fenster hatte weiter oben einen kleinen Flügel aus vier Butzen, den man öffnen konnte. Mit einiger Mühe bekam sie den Riegel aufgeschoben und zog daran. Ein Hauch kalter Luft wehte ihr entgegen, und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie die Felder im Frühnebel erkennen. Neben dem Fenster jedoch beäugte sie ein steinernes Fratzengesicht, aus dessen Maul einige Tropfen Wasser quollen.
Ihre Haut wurde klamm und kalt, sie verschloss die Scheibe wieder und kroch bibbernd unter die Decke. Wer immer sie hierhin gebracht hatte, würde sich wohl bald zeigen. Was mochte der Grund für die Entführung sein? Glaubte jemand, dass man ein hohes Lösegeld für sie zahlen würde? Dann hatte er sicher richtig gedacht, denn ohne jeden Zweifel würde ihr Vater jeden Preis für ihre Freilassung zahlen, dessen war sie sicher.
Steckte also ein Feind von Ivo vom Spiegel hinter dieser Posse?
Nicht auszuschließen. Er war ein Mann von Einfluss, Macht und Reichtum – das schürte Neid und Missgunst. Er war schon des Öfteren bedroht und angegriffen worden, und seine Vergangenheit wies einige Flecken auf. Der Vorwurf der Ketzerei hatte ihn einst dem Scheiterhaufen sehr nahe gebracht, und böse Zungen verdächtigten ihn weiterhin häretischer Gedanken. Nicht ohne Grund, wie Alyss wusste.
Auch andere wären wohl bereit, für ihre Freiheit zu zahlen, überlegte sie. Ein wohlhabender Handelsherr vielleicht. John of Lynne hatte sein Vermögen mit dem Tuchhandel gemacht und war nun vermutlich der Erbe eines hochadligen Lords.
Mit einem winzigen Lächeln umarmte Alyss die Decke.
John würde zahlen. Und dann würde er sich das Gold zurückholen, von den Lebenden oder den Toten.
Doch wenn es nicht um Lösegeld ging? Wenn es sich um eine persönliche Rache handelte?
Wem hatte sie etwas getan?
Ein seltsames Gefühl der Leichtigkeit ließ ihre Gedanken durcheinanderwirbeln. War der Wein so schwer gewesen? Bunte Lichter tanzten vor ihren Augen, und ihr Leib wurde träge und müde.
»Wohledle Frau Alyss, kommt zu Euch. Ich habe Euch eine Mahlzeit und Kleider gebracht«, hörte sie eine sanfte Stimme durch die bunte Watte ihrer Träume. Sie öffnete mit einiger Mühe die Augen und sah eine schlanke Frau in einem schillernden Gewand neben sich stehen. Golden leuchteten ihre Haare, rosig ihre Haut. Ein intensiv würziger Geruch entströmte den Schüsseln, die sie auf die Truhe gestellt hatte, und ein Strudel bunter Farben entfaltete sich auf ihrer Decke. Alyss zwinkerte. Es war so unwirklich. Sie tastete nach dem Bunten und fühlte die seidige Glätte.
»Ein Gewand aus morgenländischer Seide, Frau Alyss. Weich und zart gewebt. Und hier eine feine Cotte, bestickt von kunstfertigen Nonnen. Erhebt Euch, werte Frau, und lasst mich Euch helfen.«
Da sie sich so schwer und matt fühlte, gestattete sie der Frau, ihr beim Waschen zur Hand zu gehen, und ließ sich willig die Kleider anziehen.
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