Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
sahen ihn eindringlich an.
»Meine Schwester wurde entführt. Am Samstag.«
»Alyss? Heilige Mutter Maria. Ich wusste das nicht. Ich sollte auf sie achten, habt Ihr gesagt. Ich war nachlässig. Was wisst Ihr?«
»Viel zu wenig. Ich brauche Eure Hilfe.«
»Ihr bekommt sie. Berichtet.«
Marian erzählte ihr alles, was sie bisher zusammengetragen hatten.
»Ich war letzten Donnerstag bei ihr und habe ihr die Küchenmesser gebracht, die Mats geschliffen hat. Ihre Geschäfte liefen gut, und sie freute sich auf Eure Rückkehr und auf die des Falken.« Das Schillern war aus Gislindis’ Augen verschwunden, sie blickte nüchtern und konzentriert in sein Gesicht. »Leocadies Hochzeit, ja, davon haben wir gesprochen, und darüber, wie man Lucien davon abhalten könnte, ständig Unfug anzurichten. Aber von Bestellungen und Weinlieferungen sprach sie nicht. Auch nicht von Ärger mit jemandem. Die Frau, die ertrunken ist, erwähnte sie, und ich spürte ihren Verlust, Herr Marian. Aber sie wollte nicht darüber reden. Kannte sie das Weib?«
»Die Amme, die durch Nachlässigkeit den Tod des kleinen Sohnes verursachte.«
Gislindis drückte sich die Hand auf den Mund.
»Gislindis, hat mein Vater Feinde? Hat John jemanden verärgert? Hat Arndt van Doorne noch Rechnungen offen?«
»Ich höre mich um, Herr Marian.«
»Hat jemand eine ungewöhnliche Fracht befördert?«
»Auch danach höre ich mich um. Aber, Herr Marian, tut auch Ihr etwas. Beobachtet Merten. Er treibt sich mit allerlei Tagedieben herum, sitzt oft in den Tavernen und macht Frauen betrunken.«
»Er ist ein Tagedieb und Geck, aber für meine Schwester leistet er ordentliche Arbeit.«
»Vielleicht. Aber er macht ihr auch den Hof.«
Marian stützte das Kinn in die Hände und sann über diese Bemerkung nach.
»Als der Overstoltz sie in den Kerker gebracht hat, weil er glaubte, sie habe den Arndt umgebracht, hat Merten sich für sie eingesetzt«, sagte er nach einer Weile. »Er ist ihr immer mit Achtung begegnet. Auch wenn er ansonsten gerne herumtändelt. Ich mag ihn nicht besonders.«
»Ich mag ihn gar nicht. Aber ich weiß nicht, warum, Herr Marian. Er ist auch nicht anders als die übrigen Gimpel, die sich auf den Märkten und in den Schenken herumdrücken. Habt einfach ein Auge auf ihn.«
»Natürlich. Nur, Gislindis, warum sollte er meine Schwester entführt haben? Das will mir nicht einleuchten. Dazu hat es Vorbereitung und Planung bedurft und sicher auch einiges an Münzen, um hier und da Schweigen zu erkaufen. Für einen besonders hellen Geist halte ich ihn nicht.«
Sie zuckte mit den Schultern und schob den Silbergroschen wieder zu ihm hin.
»Ihr habt keinen Gegenwert erhalten, Herr Marian. Wenn Mats und ich etwas erlauscht haben, berichten wir Euch.«
»Danke, Gislindis. Ich werde die alte Trude mal aufsuchen und sie nach Mertens Verbleib befragen.«
Gislindis schüttelte den Kopf.
»Nicht Ihr, Herr Marian. Die Trude ist mit sanfter Gewalt leichter zu lenken als mit Ungeduld und harten Fragen. Lasst Frau Catrin mit ihr reden.« Und dann lächelte sie. »Frau Catrin ist eine sanfte, liebenswerte Frau von unendlicher Geduld und Zähigkeit.«
»Wohl wahr. Aber zäh bin ich auch!«
»Doch geduldig?«
»Nein!«, sagte er und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu rauben.
Sie seufzte leise auf. »Dann also kein Schmalzbrot!«
»In Ordnung, das hat auch viel besser geschmeckt.«
Marian kehrte in die Witschgasse zurück, einerseits zufrieden mit der zarten Liebelei, zu der die schöne Schlyfferstochter nun wieder bereit war, andererseits doch unbefriedigt über die wenigen Fortschritte, die ihre Suche nach seiner Schwester machte. Die Kirchenglocken kündeten die Sext, und hier und da zogen würzige Essensdüfte aus den Fenstern der Häuser in die Gassen. Mit der Erwartung, ein Mahl vorgesetzt zu bekommen, betrat er alsbald die Küche und wurde Zeuge, wie John seinen Schützling Cedric und Lucien eben in mundgerechte Stücke zerlegte.
»Hahnenkampf. Ein Vergnügen, dem Tagediebe und Taugenichtse nachgehen«, fauchte er eben, und unter seinen verhangenen Lidern schossen blaue Blitze. Die beiden Jungen standen mit hängenden Schultern vor ihm.
»Keine eben feine Beschäftigung«, sagte auch Marian. »Aber sicher eine, die eine große Verlockung darstellt. Urteile nicht zu streng.«
»Oh doch, mein Freund. Denn die Münzen, die diese zwei scoundrels für die Wetten brauchten, erhielten sie durch das Beleihen der Kupferpfanne, die vermisst
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