Das Lied des Falken: Historischer Roman (German Edition)
sagte ihr ihr Verstand.
Wo blieben ihre Retter?
Voller Sehnsucht schaute sie über das Land, als könne ihr Blick einen Trupp Berittener anziehen, der die Mauern stürmen würde.
Stattdessen betrat mal wieder Duretta den Raum und begann mit ihrem süßlichen Geplapper.
»Überraschung, Liebelein, Überraschung. Ein wohledler Herr ist eingetroffen. Wir wollen uns aufputzen, nicht wahr? Und ihn dann mit freundlichen Worten empfangen. Komm, Liebelein, ich helfe dir in das Gewand. Und die schwarzen Locken wollen wir ausbürsten, dass sie lang und schimmernd über deinen Rücken fallen. Das wird dem Herrn gefallen.«
»Wer ist der wohledle Herr?«, bemühte Alyss sich mit demütig gesenktem Kopf zu fragen.
»Oh, ein guter Mann, ein geachteter Mann. Ein Herr Job von Vollbach. Hat ein hübsches Haus und Felder und sucht ein Weib, das es ihm mit Anstand führt.«
»Ein Freund Eures Bruders?«
»Ein guter Nachbar, Liebschen.«
Duretta schüttelte das Seidengewand aus und warf es ihr über den Kopf. Alyss ließ es sich wehrlos gefallen, dass sie daran zupfte und schnürte und ihr dabei gierig über den Leib strich. Aber sie bekam eine Gänsehaut vor Ekel. Sie ließ sich auch die Haare bürsten und sich Rosenwasser in die Kopfhaut massieren. Still und demütig, das war ihre Rolle.
Innerlich kochte sie.
Aber dann siegte die Vernunft über die Wut.
Sie würde endlich die Kemenate verlassen und sich ein Bild von dem Gebäude machen können. Fluchtwege und Waffen, danach würde sie Ausschau halten. Wer immer dieser Mann war, sie würde die Scharade mitspielen. Möglicherweise konnte sie in ihm einen Helfer finden.
Schließlich war Duretta mit ihrem Aussehen zufrieden und führte sie, fest am Ellenbogen gefasst, aus dem Raum. Eine enge Wendeltreppe führte nach unten – für eine überstürzte Flucht in einem Kleid mit pelzverbrämter Schleppe nicht eben geeignet, registrierte sie. Dann folgte ein langer Flur, an dessen Steinwänden der Ruß der Fackeln seine Spuren hinterlassen hatte, und schließlich öffnete Duretta eine schwere Holztür, die in ein Prunkgemach führte. Eine lange Tafel war vor dem Kamin gedeckt, auf weißem Leinen schimmerten silberne Pokale, ziselierte Zinnplatten und -krüge. Im großen Kamin brannte jedoch kein Feuer, aber durch die hohen Fenster fiel das helle Licht des Nachmittags.
An dem Tisch saß ein Mann. Alleine. Duretta führte sie zu dem hochlehnigen Stuhl ihm gegenüber und säuselte ihre Vorstellung.
Der Mann hob den Kopf und sah sie abschätzig an.
Alyss hatte allergrößte Mühe, nicht lauthals zu schreien.
Er trug ein Samtwams, das ihm zu eng war, eine Filzkappe auf seinem Kopf ließ struppig-fettige Haare von undefinierbarer Farbe erkennen, sein Gesicht war grob, die Nase von roten Äderchen durchzogen, und als er grunzend ihren Gruß erwiderte, sah sie braune Zahnstummel. Diese Missbildungen mochten abstoßend sein, womöglich aber barg sein Körper eine reine, sanfte Seele. Doch als sie sich auf dem Stuhl niederließ, quoll ihr eine solche Wolke von Gestank entgegen, dass sie diese Vermutung weit von sich wies. Der Kerl musste in einer Jauchegrube genächtigt und anschließend einen Bund Knoblauch roh gefressen haben.
Noch immer säuselte Duretta vor sich hin, und Alyss neidete ihr erstmals die Ambra-Kugel an ihrem Hals.
»Genieß das Mahl, Liebelein, speist und trinkt miteinander und lernt Euch kennen.«
Eine weitere Tür öffnete sich, und zwei Mägde brachten ein Tragbrett an den Tisch. Der Duft von Gesottenem und Gebratenem überdeckte den Gestank ihres Gegenübers, und dankbar ließ Alyss sich auflegen.
Duretta hatte sich entfernt, und mit einem lustvollen Grunzen fiel der Herr Job von Vollbach über das Mahl her. Fassungslos beobachtete sie, wie er mit seinen schmutzigen Händen das Fleisch von den Platten riss und wie ein Wolf verschlang. Dazu stürzte er Becher um Becher Wein hinunter, rülpste, schmatzte, sabberte und befleckte sein Wams mit Soßen und Fett.
Das war kein Herr.
Das war noch nicht mal ein Schwein.
Das war der Auswurf eines Dämons.
Sie bemühte sich wegzuschauen und knabberte an einem Brotstückchen, das ihr im Mund kleben bleiben wollte. Die Mägde brachten neue Gerichte an den Tisch, Gemüsetorten und Pasteten, Klöße in Weinschaum, süßes Gebäck, Honigfrüchte und Mandelcreme.
Der gefräßige Gierschlund stopfte alles wahllos in sich hinein. Dann soff er einen weiteren Pokal Wein aus, rülpste noch einmal, beugte sich vor und erbrach
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