Das Lied des Kolibris
Jahreszahl.
Die Tradition der mündlichen Überlieferung also, mit der ich meiner Tochter ihre Wurzeln hätte verständlich machen können, war im Begriff, mit mir auszusterben. Da Nzinga mir zunehmend entglitt und ich ihr außerdem nicht schaden wollte, indem ich ihr verbotene Dinge in einer verbotenen Sprache erzählte, die sie versehentlich hätte ausplaudern können, nahm ich mir vor, mich zur Erzählerin und Zuhörerin zugleich zu machen. Es ist nämlich etwas ganz anderes, ob man eine Geschichte nur im Kopf sieht oder ob man sie in Worte kleidet – erst die Sprache verwandelt eine diffuse Erinnerung in eine Anekdote, die es zu bewahren lohnt.
Die anderen Sklaven hielten mich fortan erst recht für verrückt. Immerzu sahen sie mich Selbstgespräche führen, was ihrem Irrglauben, ich sei eine Hexe, noch mehr Nahrung gab. Sie glaubten, ich sagte Beschwörungsformeln vor mich hin, und ich ließ sie in diesem Glauben. Die einzige Person, die mich hätte verstehen können, weil sie meiner Muttersprache mächtig war, nämlich meine einstige Beschützerin Samba, die den Sklavennamen Jojo trug, sah geflissentlich an mir vorbei. Wahrscheinlich war es ihr unangenehm, dass ich sie so enttäuscht hatte. Sie hatte sich mehr von mir und meinem Einfluss auf den Senhor versprochen.
Ich erzählte mir selbst Geschichten, wie ich sie gern Nzinga oder auch meinem Erstgeborenen Chilala erzählt hätte, der inzwischen etwa zehn Jahre alt sein musste. Er würde in diesem Alter mit den anderen Knaben des Dorfes zum Ziegenhüten eingesetzt werden, und bald schon würde er von seinem Vater in die geheimen Rituale des Mannseins eingeweiht werden. Ich unterdrückte die Tränen, die mir bei der Erinnerung an unser friedliches Leben am Ufer des Cubango aufzusteigen drohten. Stattdessen nahm ich mir vor, bei nächster Gelegenheit meinen Orixá um Glück und Gesundheit für meine Familie in Afrika zu bitten, die ihrerseits gewiss der Ansicht war, ich selber weilte längst unter den Ahnen. Was hätte ich darum gegeben, ihnen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen zu können! Aber das war nahezu ausgeschlossen.
Es gab Schwarze, denen es gelang, nach Afrika zurückzukehren. Auch ich hatte die Gerüchte gehört. Doch es konnte sich nur um einige sehr seltene Fälle handeln, und eine Frau war meines Wissens nie darunter gewesen. Es handelte sich um Afrikaner von zweifelhafter Moral, die sich nach jahrzehntelanger Plackerei die Freiheit erkauft hatten, um in ihrer alten Heimat ihre Kenntnisse der portugiesischen Sprache und der Gepflogenheiten der Weißen gewinnbringend zu nutzen – indem sie den Sklavenhändlern zuarbeiteten. Das zumindest hörte man hinter vorgehaltener Hand munkeln. Hätte ich einen solchen Mann kennengelernt, ich hätte ihm niemals eine Nachricht für meinen Gemahl Uanhenga oder für meine Eltern anvertraut. Er hätte doch nur meinen Lohn für seine Dienste kassiert und dann wohl den Umweg in unser Dorf gescheut. Im Übrigen wollte ich keinen der schwarzen Helfershelfer der Sklavenjäger auch nur in die Nähe unseres Dorfes lotsen. Also konzentrierte ich mich darauf, über spirituelle Wege mit meinen Nächsten Kontakt aufzunehmen.
Ich brachte der Meeresgöttin Opfer, die mit geheimen Botschaften versehen waren, so dass die richtigen Strömungen diese Botschaften bis in unser Dorf tragen mochten. Ich entzündete kleine Feuer und verbrannte darin mystische Wurzeln, auf dass günstige Winde die in den Qualm gesprochenen Wünsche nach Afrika trugen. All dies tat ich im Verborgenen. Nach außen hin gab ich mich als gelehrige und anstellige Sklavin. Ich musste dies tun – denn um nichts in der Welt hätte ich riskiert, dass man mir auch noch den Umgang mit meiner Tochter Nzinga verbot, nur weil ich rebellisch oder störrisch war.
Als Nzinga sieben Jahre alt wurde, hatten die Weißen sie bereits so sehr umerzogen, dass sie begann, ihre eigene Mutter – mich – abzulehnen.
»Du redest immer so komisch«, sagte sie zu mir, als ich ihr auf Kimbundu gratulierte. »Die anderen sagen, du bist eine Hexe. Ich habe aber Angst vor afrikanischem Zauberkram. Ich will nicht, dass du mich verzauberst.«
Ich gab ihr eine Ohrfeige. In unserer Muttersprache schimpfte ich mit ihr: »Wer dich mit einem üblen Fluch belegt hat, das sind die weißen Senhores. Man muss die Eltern achten und ehren. Wer das nicht tut, wird später von bösen Geistern heimgesucht.«
Daraufhin riss sie sich von mir los und rannte heulend zur Casa
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