Das Lied des Kolibris
Grande.
Ich war nicht minder erschüttert über diesen Verlauf der Dinge als meine Tochter, obwohl ich sie doch vorhergesehen hatte. Das war die raffinierteste und sicherste Methode der Weißen, uns zu versklaven: Mehr noch als die menschenunwürdige Arbeit war es das Auseinanderzerren ganzer Familien, die uns verzweifeln ließ und uns jeden Lebensmut raubte.
Mein Lebenswille allerdings ließ sich nicht so schnell brechen. Ich hielt mich an der bescheidenen Hoffnung fest, dass es meiner Tochter besser ergehen möge als mir und ich sie zumindest gelegentlich zu Gesicht bekam. Das war mehr, als andere schwarze Mütter hatten, denen zuweilen all ihre Kinder fortgenommen und auf eine andere Fazenda verkauft wurden.
Dann, eines Tages, geschah etwas so Unerwartetes, dass mein Glaube an unwahrscheinliche Zufälle wiederhergestellt wurde. Ein neuer Sklave kam auf unsere Fazenda. Die Weißen hatten ihm den Namen Luís Inácio gegeben, unter den Sklaven wurde daraus jedoch sogleich Lula.
Und ich kannte ihn. Ich hatte sogar schon gemeinsam mit ihm getanzt.
36
L ua legte den Stift aus der Hand. Es wurde langsam zu dunkel, um weiterschreiben zu können.
»Du musst gehen, Kasinda«, sagte sie zu der Alten. »Sonst findest du in der Nacht deinen Weg nach Hause nicht mehr.«
Kasinda schnaubte beleidigt, als seien Wanderungen in der Finsternis etwas, was sie mit Leichtigkeit bewältigen konnte.
»Oder bist du auch geflohen?«, fragte Lua sie ungläubig. Die Vorstellung beunruhigte sie. Wenn sie jetzt nicht nur für sich selbst, sondern auch noch für eine Greisin sorgen müsste, wäre sie wahrscheinlich endgültig verloren.
Abermals schüttelte die Alte den Kopf und gab dazu ein Schnaufen von sich, als habe Lua sie einer schlimmen Sünde bezichtigt. »Kasinda nicht fliehen. Kasinda sterben.«
»Du siehst mir nicht danach aus, als lägest du im Sterben. Eigentlich wirkst du für dein Alter doch recht agil. Aber sag, wie kommt es, dass du hier bist?«
»Dumme Senhorita erzählen Kutscher José, dass braucht Decken, Essen, Pferd für morgen ganz früh. Kasinda sein versteckt in Stall von Kutscher José. Alles hören, alles wissen.«
»Und was hat José auf Três Marias gemacht?«
»Fahren fast jede Tag. Bringen Briefe von Senhora für Senhorita, und von Senhorita für Senhora. Sinhô nicht wissen.«
Aha, dachte Lua. Mutter und Tochter ließen einander also heimlich Botschaften zukommen, die von José überbracht wurden. Und Kasinda nutzte die Gelegenheit, um mit José zur Nachbarfazenda zu fahren. Es würde weder Dom Felipe noch sonst jemandem auffallen, wenn die Alte fort war. Und dass José andauernd mit der Kutsche losfuhr, um Erledigungen für Dona Ines zu machen, war ebenfalls nicht weiter verwunderlich. Hatte Kasinda die anderen Flüchtlinge, die in Liberdade Zuflucht gefunden hatten, auf diesem Wege informiert? Hatte sie die Gutmütigkeit Josés – oder aber seine Vernarrtheit in sie? – ausgenutzt, um Zé bei der Verwirklichung seines Traums zu helfen? Denkbar war es, wenn auch sehr gewagt.
»Und musst du nicht wieder mit José zurück nach São Fidélio fahren?«
Sie grinste Lua schief an. »Gewitter sehr stark. José müsse schlafen auf Três Marias.«
Soso. Sie würde also die Nacht über fortbleiben. Wahrscheinlich würde nicht einmal das auffallen. Die allabendlichen Zählungen der Sklaven in der Senzala wurden ohnehin nicht sehr sorgfältig durchgeführt.
»Und du bleibst hier bei mir am Strand?«, forschte Lua weiter. Sie war sich nicht sicher, ob sie die unerwartete Gesellschaft schätzen sollte, weil sie dann nicht so allein hier draußen wäre, oder aber sie verfluchen, weil sie sich dann die ganze Nacht hindurch die schlimmen Berichte Kasindas würde anhören müssen.
»Oh, nein!«, rief Kasinda aus. »Du bleiben, ich gehen zurück. Haben kein Angst in Nacht.«
»Bitte bleib!«, hörte Lua sich betteln, noch ehe sie über diese plötzliche Eingebung, die ihre wahren Gefühle verriet, nachdenken konnte. Nun, da sie es ausgesprochen hatte, wollte ihr der Gedanke, die Nacht hier am Strand allein zu verbringen, unerträglich erscheinen. Lieber würde sie sich stundenlang Kasindas Geschichte anhören, als bis zum Morgengrauen über ihr eigenes Schicksal nachzudenken. Denn allmählich drang Lua wieder ins Bewusstsein, was Kasinda ihr gesagt hatte, als sie hier erschienen war: dass sie ihrer Meinung nach ein Kind erwartete. Ob es wahr war oder nicht, spielte im Augenblick keine Rolle. In jedem Fall
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