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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Afrikaner, jemand, der die Entbehrungen und Erniedrigungen der Sklaverei besser nachvollziehen konnte als all die brasilianischen Sklaven, die die Freiheit ja nie kennengelernt hatten.
    Es sollten noch einige Wochen vergehen, bevor ich endlich die Gelegenheit hatte, mit Lula unter vier Augen zu reden. Es war nicht ganz einfach, denn er sprach einen anderen Dialekt als ich, aber es reichte, um uns verständigen zu können.
    Sein echter Name war Muhongo. Er hatte an der Küste gelebt und war Fischer. Die Menschenjäger hatten ihn erwischt, als er eines Abends später als die anderen mit seinem Boot zurückkehrte, weil er auf dem Meer eingeschlafen war. Er verfluchte sich bis zu diesem Tag für das harmlose Nickerchen. Muhongo berichtete mir in ebenso einfachen wie bestürzenden Worten, dass er unzählige Fluchtversuche unternommen habe, weil er sich durch seine Fähigkeit, zu schwimmen und ein Boot zu handhaben, im Vorteil geglaubt hatte. Aber die Weißen besaßen Schusswaffen, die auf viel weitere Distanz ihr Ziel treffen konnten als der ausgefeilteste Speer afrikanischer Machart. Sie verfügten außerdem über schnelle Boote sowie über ein ausgeklügeltes Netz an Wachposten. Auf vorgelagerten Inseln im Meer hatten sie Forts errichtet, an denen man praktisch nicht ungesehen vorbeikam. Und so war er immer wieder eingefangen worden.
    Ich empfand großes Mitleid mit Muhongo, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Afrikaner sind sehr stolze Männer, und es gibt weniges, was ihren Stolz mehr verletzt als Mitleid. Umgekehrt versuchte auch er sich nichts anmerken zu lassen, als ich ihm eine gekürzte Version meiner Erlebnisse schilderte und ihm aus der Ferne meine süße Tochter mit ihrer verräterischen hellbraunen Haut zeigte. Für eine Afrikanerin galt es als große Schande, ein Kind von einem der weißen Verbrecher zu bekommen. Doch auch Muhongo hatte in der Sklaverei gelernt, andere Maßstäbe anzulegen als in der Heimat. Er wusste, dass mich an meinem Schicksal keine Schuld traf.
    Ich fühlte mich zu Muhongo hingezogen. Ich wusste nicht, ob ich dieselben Gefühle für ihn gehegt hätte, wären wir einander unter weniger tragischen Umständen begegnet. Vielleicht entsprang meine Zuneigung zu ihm nur dem Wunsch, einen Gleichgesinnten um mich zu wissen, einen Gefährten, der die Vorurteile der Brasilianer gegen Afrikaner ebenso zu spüren bekommen hatte wie ich selber. Wie auch immer: Es war wunderbar, endlich über alles Mögliche reden zu können, ohne im Blick des Gegenübers immerzu einen hämischen Ausdruck zu sehen, noch dazu in unseren jeweiligen Dialekten, die einander ähnelten. Es war eine unendliche Erleichterung für mich, dass auch Muhongo viele der Gebräuche der Weißen lächerlich fand, ihre Kleidung albern, ihre Sprache scheußlich, ihre Religion abstoßend. Nachdem ich jahrelang von allen verlacht worden war, wenn ich mich abwertend über solche Dinge wie goldene Hausaltäre geäußert hatte, war ich schon beinahe so weit gewesen, an mir selbst zu zweifeln. Nun aber hatte ich einen Seelenverwandten gefunden.
    Wir verbrachten viele Abende damit, einander die Beobachtungen zu schildern, die wir gemacht hatten. Dass wir uns allein dadurch, dass wir uns so oft von den anderen absonderten, nicht eben entsprechend afrikanischer Sitte verhielten, ignorierten wir. In der Gefangenschaft galten andere Gesetze als daheim, wo ein Mann und eine Frau, wenn sie nicht miteinander verheiratet waren, sich keinesfalls so lange allein miteinander unterhalten durften. In dieser Hinsicht ähnelten die Gesetze der Weißen den unseren sehr. Ich schilderte Muhongo die Episode, in der ich auf dem Feld die Schlange erschlagen hatte, vor der alle anderen feige zurückgewichen waren, und er wusste von einem ganz ähnlichen Fall zu berichten, in dem er mit bloßen Händen ein Krokodil getötet hatte, das die anderen nur mit Stöcken zu berühren wagten. Wir lachten herzlich über die weißen Memmen und die verweichlichten Schwarzen, die ihre afrikanischen Wurzeln verleugneten. Noch mehr amüsierten wir uns jedoch über die lachhaften Rituale, die sie in ihren Messen zelebrierten und mit denen sie ihren eigenen Überzeugungen ständig widersprachen. Sie aßen ein Stück Brot, das man ihnen als »Leib Christi« darbot, verabscheuten aber zugleich die kannibalischen Indiostämme. Sie huldigten einem Mann, der Armut gepredigt hatte, statteten ihre Kapellen und Kirchen aber prachtvoller als Paläste aus. Sie lehrten uns, dass die

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