Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
vor, wenn er erfuhr, dass er Vater geworden war. Wenn er es denn je erfuhr. Denn das war die andere Seite der Medaille: Das Kind würde ohne Vater aufwachsen. Es würde im schlimmsten Fall sogar ohne Mutter aufwachsen, denn wenn man Lua schnappte, würde Dom Felipe zweifellos ihr Kind zu seinem Eigentum erklären. Eine fremde Frau würde es an ihre Brust legen, und niemand würde ihm je die Wärme und Geborgenheit geben können, die es von Lua erhielte. Wenn sie an die Leiden dachte, die Kasinda durchlebt hatte, dachte sie zuweilen sogar, dass es besser für das Kind sei, gar nicht erst geboren zu werden.
    Aber nein! Nein, ganz gleich, was ihr widerfuhr, sie würde Sorge dafür tragen, dass dieses unbekannte Wesen eine Chance hatte. Es verdiente zu leben.
    Je länger Lua am Strand vor sich hin brütete, desto mehr zweifelte sie an ihrer Entscheidung, Liberdade verlassen zu haben. War es wirklich so schlimm dort gewesen? Es wollte ihr nun nicht mehr gar so schrecklich erscheinen. Hatte sie dort so sehr gelitten, dass sie dafür Entbehrungen, Einsamkeit sowie die Gefahr schrecklicher Bestrafung auf sich hatte nehmen müssen? Hatte sie voreilig einen Entschluss gefällt, den sie später bitterlich bereuen würde? Ob sie vielleicht doch lieber wieder dorthin zurückkehren sollte? Noch war es nicht zu spät. Sie würde zwar im Elend leben, aber in Freiheit. Sie wäre mit Zé zusammen, und ihr Kind würde das für Schwarze so seltene Privileg genießen, bei beiden Elternteilen sein zu können und mit Liebe und Zärtlichkeit überhäuft zu werden.
    Lua schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte verzweifelt auf. Was war sie nur für ein dummes Huhn! Wie konnte man bloß so wankelmütig sein? Die Weißen taten wahrscheinlich ganz recht daran, die Schwarzen wie hilflose Kinder zu behandeln. An ihrem Beispiel sah man ja am besten, wohin es einen brachte, wenn man freie Entscheidungen traf. Bei diesem Gedanken heulte sie nun erst recht auf. Oh, wie konnte sie nur! Es war unverzeihlich, so etwas auch nur zu denken. Die Weißen waren es doch, die die Schuld an ihrer Misere trugen. Würde man die Schwarzen nicht entmündigen, wären sie zum selbständigen Denken erzogen worden und hätten frühzeitig gelernt, Entscheidungen zu treffen. Dann könnten sie sicher ebenso gut mit der Freiheit umgehen wie jeder andere auch.
    Im Übrigen war es ja nicht so, als wären weiße Mädchen, die in eine Notlage wie die ihre geraten waren, besser dran als Lua. Sie erinnerte sich an den Fall einer entfernten Bekannten der Sinhá Eulália, die mit 15 Jahren schwanger geworden war und sich das Leben genommen hatte, weil der Kindsvater abstritt, sich je mit ihr eingelassen zu haben. Solche entsetzlichen Schritte blieben den Schwarzen wenigstens erspart, denn als die »Tiere«, als die sie galten, scherte sich kein Mensch um uneheliche Geburten. Im Gegenteil, ihre Senhores waren ja froh über jedes Kind, denn es vergrößerte ihre »Herde« und damit ihren Reichtum und ihr Ansehen.
    Einen Augenblick schoss Lua die zynische Idee durch den Kopf, dass sie sich ja stellen könnte – und mit dem Argument, einen weiteren, noch ungeborenen Sklaven mitgebracht zu haben, vielleicht einer allzu drakonischen Strafe entgehen würde. Nein! Voller Widerwillen schüttelte sie sich. Das alles kam nur davon, dass sie zu lange allein an diesem vermaledeiten Strand verbrachte, zu viel Zeit zum Nachdenken und zu viel Furcht vor der Zukunft hatte.
    Lua verließ sich darauf, dass die Sinhazinha schon irgendetwas zu ihrer Rettung unternehmen würde. Aber wie es schien, hatte ihr Wort kaum mehr Gewicht als Luas. Eulália genoss ihre kleinen Ausflüge, suhlte sich in dieser vermeintlichen Rebellion und fühlte sich als Heldin, weil sie etwas Verbotenes tat. Aber konnte sie wirklich helfen? Je länger Lua darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihr vor. Und auch Kasinda verfügte nicht über die Mittel, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. So schwer es Lua fiel, es sich einzugestehen: Sie würde selbst tätig werden müssen, sonst säße sie noch jahrelang hier. Das Bild einer zerzausten Einsiedlerin drängte sich ihr auf, einer verfilzten Verrückten, die mit einem Kleinkind am Strand umherirrte und sich kaum mehr in vollständigen Sätzen äußern konnte. Darüber musste sie lachen und weinen zugleich. Immerhin war ihr noch genügend Verstand geblieben, dass sie erkannte, wie kurz davor sie war, dem Wahnsinn anheimzufallen.
    Gleich am nächsten

Weitere Kostenlose Bücher