Das Lied des Kolibris
wären ihre Schilderungen vielleicht anschaulicher, aber keinesfalls eindringlicher gewesen. Es war der Mangel an Gefühl in ihrer Stimme, der die Starrheit ihres Entsetzens lebendig werden ließ. Lua hätte heulen können beim Gedanken an Kasindas kleine Tochter und die Grausamkeiten, die man dem Kind vermutlich angetan hatte, riss sich aber zusammen. Vielleicht nahm die Geschichte doch noch einen erfreulicheren Verlauf. Sie sehnte Kasindas nächsten Besuch herbei, denn sie war überaus gespannt, wie es weiterging.
Aber das mochte noch Tage dauern. Zwischen ihrem ersten und ihrem zweiten Besuch hier bei Lua am Strand, wo sie sich mittlerweile ein richtiges kleines Nest gebaut hatte, waren drei Tage vergangen – drei vergnügliche Tage, ausnahmsweise, denn sie hatte ja Lektüre. Dass die Sinhazinha ihr ein Buch mitgebracht und ihr dadurch zu verstehen gegeben hatte, dass sie längst um Luas Lesekenntnisse wusste, hatte sie im ersten Augenblick zu Tode erschreckt. Später, als sie sich wieder beruhigt hatte, gelang es ihr jedoch, der Sache einen positiven Aspekt abzugewinnen. Oder besser: mehrere positive Seiten. Erstens sprach es sehr für die Sinhá Eulália und ihre Verschwiegenheit, dass sie über all die Jahre keinem von Luas verbotenen Fähigkeiten erzählt hatte. Ihre jugendlichen Torheiten und ihre alberne Mädchenhaftigkeit täuschten darüber hinweg, dass sie durchaus nicht dumm war und dass sie offenbar das Herz am rechten Fleck hatte. Zweitens war Lua hocherfreut darüber, dass Eulália die richtigen Schlüsse gezogen hatte: Sie, Lua, war allein und einsam und langweilte sich den halben Tag – was lag da näher, als sich die Zeit mit ein wenig Lesestoff zu versüßen? Und drittens: Sie machte sich durch dieses unerwartete Geschenk noch mehr zu Luas Mitwisserin und Verschwörerin. Ein notleidendes Geschöpf mit Lebensmitteln zu versorgen, war eine Sache – es mit Geistesnahrung zu füttern, eine ganz andere. Wenn man Eulália dabei erwischte, würde sie eine empfindliche Strafe fürchten müssen.
In den nunmehr vier Tagen, die Lua sich unter den Palmen am Strand verborgen hielt, hatte sie außer Kasinda und Eulália keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Einmal sah sie ein Fischerboot, das weit draußen auf dem Meer vorbeifuhr, mehr nicht. Hatte sie früher das Alleinsein für ein erstrebenswertes Ziel gehalten, so war sie dessen jetzt, da sie über ein Zuviel daran verfügte, überdrüssig. Es war nicht gesund für die Seele, wenn man Stunde um Stunde, Tag um Tag damit zubrachte, nach Störenfrieden Ausschau zu halten, während man sie zugleich auch irgendwie herbeisehnte, nur um eine menschliche Stimme zu hören. Lua wurde den Eindruck nicht los, dass ihr die Gesellschaft von Schildkröten allein auf Dauer nicht zuträglich war.
Dabei waren die Schildkröten wirklich putzige Kreaturen. Sie kamen allnächtlich an den Strand, watschelten auf ihren Flossenfüßen über den Sand und gruben tiefe Löcher, in die sie ihre Eier plumpsen ließen. Die Eier hatten eine nachgiebige Schale, so dass sie beim Sturz in die Grube keinen Schaden nahmen. Oft war morgens der ganze Strand mit den Spuren der Schildkröten übersät, den gleichmäßigen Abdrücken ihrer Flossen, die sich neben einer tieferen Furche herzogen, der Spur ihrer massigen Leiber. Lua war ein paarmal versucht gewesen, die Eier zu stehlen und sie auszuschlürfen. Doch sie ließ es immer bleiben. Sie wusste ja gar nicht, ob Schildkröteneier genießbar waren. Außerdem verspürte sie, so lächerlich dies sogar in ihren eigenen Augen war, ein tiefes Mitleid mit den Tieren, die auf diese Weise ihrer Brut beraubt werden würden.
Sie selbst würde ja ebenso wenig wollen, dass ihr jemand ihren Nachwuchs stahl. Inzwischen war Lua immer mehr davon überzeugt, dass Kasinda recht hatte und sie in anderen Umständen war. Ihr war morgens speiübel, und ihre Periode hatte auch nicht wieder eingesetzt. Beides hätte natürlich das Ergebnis der widrigen Umstände sein können. Aber Lua glaubte das immer weniger – und freundete sich immer mehr mit dem Gedanken an, Mutter zu werden.
Es waren zwiespältige Gefühle, die sich ihrer bemächtigten. Auf der einen Seite durchströmte sie eine tiefe Liebe zu dem ungeborenen Kind. Sie konnte Stunden damit zubringen, vor sich hinzuträumen und sich auszumalen, wie es wohl aussehen würde. Sie dachte sich Namen aus, für Jungen ebenso wie für Mädchen, und sie stellte sich Zés vor Freude leuchtendes Gesicht
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