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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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der Brecher sowie das Zurückweichen des Wassers, nachdem sie zerschellt waren, übte einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Die ewige Wiederholung desselben Vorgangs versetzte sie in eine Art Trance. Wie betäubt stand sie dort und hoffte, dass eine besonders mächtige dieser Wellen sie holen würde. Sie brauchte nur noch wenige Schritte weiterzugehen, dann wäre sie eins mit dieser urtümlichen Naturgewalt, mit dem ewig sich wiederholenden Rhythmus der göttlichen Gesetze.
    Sie hob ihr Gesicht der Sonne entgegen, die nun schon als greller Ball im Osten stand, und dachte an den fernen Kontinent, der auf der anderen Seite des großen Meers lag – Afrika. Ihr fiel Kasindas furchtbare Verschleppung ein sowie ihre oft wiederholte Beteuerung, die Ahnen würden über die Lebenden wachen. Ob irgendwo hinter dem Horizont auch Vorfahren von ihr selbst begraben lagen, die in diesem Moment ein Auge auf sie haben würden? Und ob es hier in Brasilien irgendwo vielleicht lebende Vorfahren von ihr gab? Suchte eine alte Frau weit fort von hier nach ihrer Tochter und ihrer Enkelin? Hatte sie Großeltern oder Urgroßeltern, die selbst vor langer Zeit in Afrika gefangen genommen worden waren und die Ähnliches durchgemacht hatten wie Kasinda? Ganz bestimmt verhielt es sich so, denn sie alle, die sie dunkle Haut hatten, stammten schließlich ursprünglich von Afrikanern ab. Warum hatte sie nie zuvor darüber nachgedacht, wessen Erbe sie in sich trug?
    Der unsichtbare Kontinent, der die Heimat ihrer Ahnen gewesen war, zog sie magisch in seinen Bann. Sie machte einen Schritt nach vorn. Das Wasser schwappte nun bei jeder Welle über ihre Füße. Es fühlte sich herrlich erfrischend an. Der Wind hatte zugenommen und blies ihr die Locken aus der Stirn, doch die aufsteigende Sonne hatte bereits so viel Kraft, dass ihr warm wurde. Alles in ihr sehnte sich danach, sich in die Fluten zu stürzen, sich von dem belebenden Nass abkühlen zu lassen, sich in der Umarmung der Wellen treiben zu lassen und sich in einem unbekannten Reich wiederzufinden, das Heimkehr versprach.
    Wie aus weiter Ferne hörte sie einen Ruf: »Lua, Lua!« Es war, als habe das Meer selbst nach ihr gerufen, als hätten die Stimmen der Ahnen nach ihr gegriffen und sie aufgefordert, die Heimreise nun endlich anzutreten. Sie ging einen weiteren Schritt nach vorn. Dann noch einen.
    Das plötzliche Ende des Riffs und ihr Sturz ins Wasser wurden von einem Gefühl des Schrecks begleitet, das zugleich Erleichterung in sich barg. Sie hatte es getan. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und diesmal wäre sie unwiderruflich. Eine Welle brach sich über ihr und wirbelte sie herum. Sie wurde gegen die Felsen geschleudert. Während ihr Geist und ihre Seele dieses Wohlgefühl, den Elementen schutzlos ausgeliefert zu sein, genossen, sträubte ihr Körper sich dagegen. Sie wollte sich nicht gegen ihr unausweichliches Ende wehren und tat es doch. Sie wollte sich dem Meer hingeben, wollte sich ganz von ihm verschlingen lassen und den Augenblick des Überwechselns in ein anderes Dasein mit allen Sinnen genießen. Aber das gelang ihr nicht.
    Die Instinkte waren stärker als ihr Wille. Wenn die Strudel sie wieder an die Oberfläche spülten, schnappte sie, ohne es zu wollen, nach Luft. Sie schlug um sich und verschluckte sich. Sie stemmte sich gegen die Wucht der Wellen, obwohl sie wusste, dass es aussichtslos war und dass sie das, wofür ihr Körper kämpfte, nämlich das Leben, im Grunde gar nicht wollte. Nicht mehr. Sie wollte nur noch Frieden. Sie merkte, wie ihre Kräfte irgendwann nachließen, und sie war dankbar dafür. Ein Kampf gegen das Meer war würdelos.
    Dann war es irgendwann so weit. Sie spürte die sanfte Umarmung des Todes, der ihr sanft »Lua« ins Ohr flüsterte. Sie hatte die Vision von Zé, der mit ihr gemeinsam auf einer Woge des Glücks schwebte, der sie umarmte und küsste und ihr der beste Reisegefährte war, den man sich wünschen konnte. Sie empfand ein so inniges Gefühl von Frieden, eine so überwältigende Leichtigkeit, dass sie sich willenlos der dunkelblauen Tiefe überantwortete, die über ihr zusammenschlug.
    Lua war glücklich.

39
    D ie Schwerelosigkeit endete so plötzlich, wie sie Lua aufgenommen hatte. Der Einklang, in dem ihr Körper und ihr Geist sich befunden hatten und den sie als so wohltuend empfand, wurde jäh von einem Misston aufgelöst. Ein Schrei, eine Ohrfeige, ein Rütteln – dann schlug sie die Augen auf.
    Zé kniete über ihr, sein

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