Das Lied des Kolibris
Morgen, so beschloss sie, würde sie ihre Siebensachen packen und aufbrechen, ganz gleich, wohin. Das Nichtstun zermürbte sie mehr, als es eine ungewisse Zukunft tat. Sie legte sich schlafen, erfüllt von Optimismus und dem Glauben daran, dass sich alles zum Guten wenden würde. Doch die Nacht bescherte ihr grauenhafte Träume, so dass sie schweißgebadet erwachte und die beklemmenden Visionen der Träume mit in die Wirklichkeit nahm. Es war noch tiefdunkle Nacht. Es war vollkommen windstill und gespenstisch leise, nicht einmal das Säuseln der Palmen war zu hören. Einzig das ferne Brechen der Wellen an dem vorgelagerten Riff erinnerte Lua daran, wo sie sich befand. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, denn eine üble Vorahnung ergriff sie.
Als die Dämmerung einsetzte, sah sie eine der gewaltigen Schildkröten, die über den Sand zurück ins Wasser robbte. Sie hatte den Anblick der friedlichen Tiere bislang immer als tröstlich empfunden, doch diesmal beschrieb »Trost« ganz gewiss nicht ihre Gefühle. Die Schildkröte erschien ihr vielmehr wie ein gemeingefährliches Fabelwesen mit ihrem ledrigen Kopf, der boshaft unter dem Panzer hervorlugte, und dem mächtigen Schnabel, mit dem sie ihren Feinden sicher schlimme Bisswunden zufügen konnte. Es war, als hätte sich Luas ganze Wahrnehmung mit einem Schlag verwandelt: Was vorher weiß gewesen war, war plötzlich schwarz, alles Gute hatte sich zum Schlechten verkehrt, und was zuvor warm gewirkt hatte, ließ sie nun vor Kälte zittern.
Sie zog ihr Tuch enger um die Schultern und gab sich ihrer Verzweiflung hin. Ihr war kalt, und ihr war übel. Auf einmal sah sie sich, wie ein unbeteiligter Beobachter sie sehen würde: einsam, traurig, mit einem Kind im Bauch – und ohne jegliche Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Eine Kreatur, die zweifellos im Tod und beim Herrgott im Himmel mehr Frieden finden würde als auf Erden.
Lua begann zu beten. Zunächst murmelte sie mechanisch die Gebete, die ihr schon oft Linderung verschafft hatten, wenn sie bekümmert gewesen war. Doch alle Vaterunser und Ave-Marias blieben nutzlos. Wenn überhaupt, dann wurde sie nur noch verzweifelter. Sie sah sich im Sand knien und die Lippen bewegen, ganz wie eine Schwachsinnige. Erbittert lachte sie auf. Nun war es also so weit: Sie hatte den Verstand verloren. In einem letzten Aufbäumen gegen ihre Verwirrung suchte sie das Zwiegespräch mit dem Sohn Gottes. Laut rief sie gen Himmel: »Hilf mir, Jesus, erlöse mich von meinem Leid!« Daraufhin stieß sie wieder ein trauriges Lachen aus, denn der Nachhall ihrer eigenen Stimme erschien ihr unnatürlich und krank. Sie schlug die Hände vors Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Bitte, Jesus Christus, sag mir, was ich tun soll? Wohin soll ich gehen? Womit habe ich dieses Los verdient?«, flüsterte sie. Doch all ihre Klagen und Fragen blieben unbeantwortet.
Auch der Heiland hatte sie vergessen.
Die Sonne ging auf, und das Wasser zog sich wieder zurück. Der ewige Kreislauf von Ebbe und Flut, von Tag und Nacht, von Leben und Tod war in seiner Einfachheit und in seiner machtvollen Unerbittlichkeit einfach überwältigend. Fasziniert schaute Lua dem Naturspektakel zu. Und dann, als die Ebbe ihren Tiefstand erreicht hatte, wusste sie plötzlich, was zu tun war. Es war so einfach, dass sie sich nur darüber wunderte, warum sie nicht schon vorher darauf gekommen war.
Sie warf das Tuch von sich und ging, nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, und ebenso langsam wie entschlossen auf die Felsen zu, zwischen denen sich die kleinen Tümpel gebildet hatten. Diesmal hatte sie keinen Blick für die vielen bunten Fischlein, die sich darin tummelten. Sie wurde magisch angezogen von der weiß schäumenden Gischt, die sich da bildete, wo das Riff sich aus dem Wasser erhob. Vorsichtig kletterte sie über die nun freigelegten Felsen. Manche waren von Algen überwachsen und sehr rutschig. Kleine Krebse krabbelten über die Steine, und Muscheln klebten an ihnen. Ohne alldem einen Blick zu schenken, setzte sie ihren Weg fort und gelangte ohne Zwischenfälle zu der Linie, an der sich die Wellen brachen und die sie bisher nur aus der Ferne gesehen hatte.
Es war atemberaubend. Die Luft war feucht und salzig. Die Wellen türmten sich hoch auf und krachten mit großem Getöse auf das Riff. Die eine oder andere hatte so viel Kraft, dass selbst der weiße Schaum noch weit über die Felsen leckte und Luas Füße überspülte. Das Herannahen
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