Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
Gesicht dicht an dem ihren. Sie konnte seinen Atem spüren und die Pünktchen in seiner Iris erkennen. »O Gott!«, schluchzte er auf. Tränen liefen über seine Wangen, dann bedeckte er ihr nasses Gesicht mit unzähligen kleinen Küssen.
    »Lua!«, hauchte er ihr mit einer Dringlichkeit zu, die sie nicht verstand. »Lua, du hast es geschafft!«
    Sie wusste nicht, was er meinte. Sie lebte, oder? Das hieß, sie hatte es
nicht
geschafft – wieder hatte sie ein Ziel verfehlt. Es war ihr offenbar nicht vergönnt, auch nur ein einziges Mal etwas zu Ende zu bringen. Ein Ruck ging durch ihren Oberkörper. Sie lehnte sich zur Seite und spuckte einen Schwall Salzwasser aus. Ihr war übel. Sie war zu Tode erschöpft. Sie wollte die Augen schließen und schlafen, aber Zé ließ sie nicht. Er redete unaufhörlich auf sie ein und strich dabei über ihr Gesicht.
    »Nicht einschlafen, Lua, sonst stirbst du.«
    Aber ja doch, Geliebter, ja.
    »Bitte, mach die Augen auf. Sag etwas. Warum hast du das getan? Um Gottes willen, Lua, erklär es mir!«
    Was gab es da schon zu erklären? Sie hatte sterben wollen und wollte es jetzt mehr denn zuvor, so elend war ihr zumute.
    »Kannst du dich bewegen? Hast du Schmerzen? Kannst du mich hören? Erkennst du mich deutlich? Wie viele Finger sind das? Antworte mir, Lua!«
    Er zeigte ihr vier Finger seiner linken Hand, alle bis auf den Daumen. Sie glotzte darauf und fragte sich, was er eigentlich von ihr wollte. Was waren das alles für blöde Fragen? Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?
    »Wie viele Finger, Lua, sag schon!«
    »Vier«, flüsterte sie matt, einfach nur, damit er endlich aufhörte, sie weiter zu bedrängen.
    Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht. »Gut gemacht.«
    Sie war unendlich erleichtert darüber, dass sie zu seiner Zufriedenheit geantwortet hatte und er sie jetzt einfach schlafen lassen würde. Aber da merkte sie, wie er sie hochhob, einen Arm unter ihren Knien, den anderen unter ihrem Rücken. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, und ein Keuchen entfleuchte ihrer Kehle.
    »Tut dir etwas weh? Beweg dich nicht. Ich bringe dich in den Schatten, dort werde ich deine Wunden versorgen.«
    Ob ihr etwas weh tat? Ihr ganzer Körper war wie zerschlagen. Oder besser: Er
war
zerschlagen. Dass sie die Wucht, mit der die Wellen sie gegen die Felsen geschleudert hatten, überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Zé trug sie zu ihrem Lager und legte sie vorsichtig nieder. Sie hatte nicht die Kraft, etwas zu sagen oder ihm für seine Fürsorglichkeit zu danken. Das Letzte, was Lua wahrnahm, bevor sie erneut in Ohnmacht fiel, waren die Schrammen und Abschürfungen an Zés Brust und Armen. Er hatte sich, ging es ihr noch kurz durch den Kopf, todesmutig in die Fluten gestürzt, um sie ihnen zu entreißen, und sich dabei selbst verletzt. Sie war unendlich froh, dass er nicht ertrunken war. Sie hätte sich seinen Tod nie verzeihen können.
    Es vergingen mehrere Tage, in denen sie vor sich hin dämmerte und wenig von dem mitbekam, was um sie herum passierte. Zé fütterte, wusch und versorgte sie aufopferungsvoll. Außer ihm bekam sie niemanden zu Gesicht, aber das mochte nichts heißen. Vielleicht waren die Sinhazinha und Kasinda gekommen und von Zé wieder fortgeschickt worden. Lua gab sich ihrer Schwäche bereitwillig hin, und zwar nicht, weil sie die Pflege so genossen hätte, sondern weil sie sich noch nicht in der Lage sah, sich der Wirklichkeit zu stellen. Denn rein körperlich schritt ihre Genesung gut voran. Es war ihr Geist, so jedenfalls fühlte es sich an, der an den Felsen zerschellt war. Oder vielleicht auch schon vorher. Sie wollte niemanden sehen und mit niemandem reden. Sie wollte die Augen geschlossen lassen und allein sein mit dem Dunkel in ihrem Kopf.
    Zé konnte Luas Mangel an Lebensmut kaum ertragen. Immer und immer wieder redete er ihr ins Gewissen und forderte sie auf, sich gegen ihre Todessehnsucht aufzulehnen. Wenn das nur so einfach gewesen wäre!
    »Steh auf, Lua. Wir gehen gemeinsam hinunter zum Wasser. Du wirst sehen, wenn du erst einmal ein schönes kühles Bad genommen hast, geht es dir schon viel besser.«
    Ach, Zé, dachte sie, du hast ja keine Ahnung!
    Sie folgte seinen Anweisungen, denn sie war viel zu schwach, es nicht zu tun. Aber das gewünschte Ergebnis blieb aus. Auch nach dem erfrischenden Bad in den Naturbecken zwischen den Felsen blieb Lua seltsam distanziert und unbeteiligt, als geschehe all das einer anderen. Noch vor kaum zwei

Weitere Kostenlose Bücher