Das Lied des Kolibris
Wochen hatte sie diese Bäder genossen. Sie verstand selbst nicht, was mit ihr geschah.
Manchmal verschwand Zé für mehrere Stunden und kehrte dann mit etwas Essbarem zurück.
»Sieh nur, Lua, was ich ergattert habe!«
Aber jede Feijoada dieser Welt konnte ihr gestohlen bleiben, ganz gleich, wie viel Fleisch, Speck und Würste sie enthielt. Sie hatte überhaupt keinen Appetit, und womöglich wäre sie spätestens jetzt gestorben, nämlich hungers, hätte Zé sie nicht gezwungen zu essen.
Einmal wachte sie nachts auf. Zé saß neben ihr und wachte über sie. Sie bemerkte, dass er leise weinte. Sie fühlte sich schrecklich, als habe sie ihn bei etwas Verbotenem beobachtet. Also rollte sie sich auf die andere Seite und gab vor, tief und fest zu schlafen. Er sollte nicht wissen, dass sie Zeugin seiner Schwäche geworden war, deren Anlass sie doch selbst darstellte.
Aber in diesem Augenblick erhielt ihre Teilnahmslosigkeit einen ersten Riss. Es tat ihr in der Seele weh, diesen Mann, den nichts erschüttern konnte, weinen zu sehen, und sie bedauerte zutiefst, ihm solchen Kummer bereitet zu haben. Es war das erste Anzeichen dafür, dass auch ihre Seele wieder heilen würde.
Die Genesung verlief quälend langsam. Anders als bei einer Erkältung oder ähnlichen körperlichen Erkrankung, bei der man eines Morgens eine deutliche Verbesserung spürt, waren Luas Fortschritte so winzig, dass man sie kaum wahrnehmen konnte. Aber in ihrer Summe machten sie sich irgendwann eben doch bemerkbar. Nach ein paar Wochen aß sie wieder mit mehr Appetit. Sie konnte die Schönheit eines Sonnenuntergangs würdigen. Sie schätzte die Gesellschaft Zés. Und sie wurde wieder eitler.
Sie hatte zufällig ihr Spiegelbild in einer Pfütze erblickt – und war erschrocken davor zurückgewichen. Ihre Haare standen wirr ab, ihre Wangen waren eingefallen, und sie meinte sogar, dunkle Augenringe zu erkennen, obwohl die Spiegelung in der Wasseroberfläche so detaillierte Ansichten ja gar nicht erlaubte.
Sie bat Zé daraufhin, ihr einen Kamm zu besorgen. Er verschwand jeden Tag für eine ganze Weile, um dann mit Lebensmitteln oder Decken und Kleidung zurückzukehren. Wahrscheinlich ging er nach Três Marias, wo er ja früher einmal gelebt hatte und sicher noch viele Leute kannte, die ihn unterstützten. Ausdrücklich danach gefragt hatte Lua ihn allerdings nie. An einen Kamm hatte er bislang nicht gedacht, aber als sie ihn darum bat, schlug er sich in gespielter Verzweiflung gegen die Stirn und verfluchte sich für seine Gedankenlosigkeit. Sie sah ihm an, dass ihn ihr Wunsch freute, und zwar nicht in seinem eigenen Interesse. Es war keine hübsche Frau, die er wollte, sondern eine geistig gesunde – und das deutlichste Anzeichen für ein Wiedererwachen der normalen menschlichen Regungen war nun einmal die Eitelkeit.
»Warum kommt eigentlich die Sinhazinha Eulália gar nicht mehr vorbei?«, fragte Lua ihn eines Tages.
Er reagierte mit überraschender Wut. »Vielleicht hat sie schon wieder das Interesse an dir verloren, die feine
Sinhazinha
.« Er spie das letzte Wort aus wie einen Kraftausdruck. »Für deine Sinhazinha bist du so etwas wie ein Vögelchen, das sich einen Flügel gebrochen hat. Sie kümmert sich um dich, solange du schutzlos bist – um dich danach wieder schön in den Käfig zu sperren.«
»Das ist nicht wahr!«
»Und warum kommt sie dann nicht mehr?«
»Was weiß ich. Sicher hast du ihr zu verstehen gegeben, dass sie hier nicht länger erwünscht ist, jetzt, da du dich mir ja aufgedrängt hast.«
»Aufgedrängt? Ich habe dir das Leben gerettet!«
»Genau.«
Er sah sie traurig an. Er verstand sie nicht, so wie auch sie ihn nie verstehen würde. Und von der Freundschaft, die sich zwischen der Sinhá Eulália und ihr angebahnt hatte, konnte er ja nichts wissen. Er würde es eh nicht glauben, darum beschloss Lua, dass es besser sei, ihm erst gar nicht davon zu erzählen.
»Hast du denn«, fragte sie ihn, »keine Angst, dass sie dich verrät? Du bist ja kein schutzloses Vögelchen, sondern ein entlaufener Sklave, auf den ein hohes Kopfgeld ausgesetzt wurde.«
»Doch, ich habe Angst. Große Angst sogar, denn ich traue den Weißen nicht. Und deiner Eulália schon gar nicht. Sie ist ein verzogenes Gör, das immer bekommen hat, was sie wollte. Und diesmal wollte sie dich, als Spielzeug gewissermaßen – nur dass ich es ihr nicht erlaubt habe.«
»Das heißt, du hast sie wirklich fortgeschickt?«
»Ja, allerdings«, gab er
Weitere Kostenlose Bücher