Das Lied des Kolibris
nicht die geringste Rolle, um was sie mich bat oder wie sie mich beleidigte. Ich packte sie an den Füßen und zerrte sie aus ihrer Hängematte, an der sie sich noch im Fall festklammerte. Inzwischen waren die verbleibenden vier Frauen näher gekommen und umkreisten mich, als sei ich eine Raubkatze, die jeden Augenblick zum Sprung ansetzte. Keine dieser Frauen hatte jedoch schon einmal einem Löwen gegenübergestanden, das merkte ich sofort. Ihr Verhalten war gekennzeichnet von Zögerlichkeit, Schwäche und Feigheit, Eigenschaften, wie sie unter Gefangenen weitaus häufiger anzutreffen sind als unter freien Menschen. Diese Frauen hatten die Freiheit nie geschmeckt, sie hatten ihre Instinkte eingebüßt und all das Wissen verloren, dem wir Afrikaner unser Überleben in der Wildnis verdanken.
Als eine zum Schlag ausholte, duckte ich mich blitzschnell unter ihrem Arm, so dass sie ins Leere traf. Gleichzeitig schlug ich einer anderen in die Kniekehlen. Sie knickte ein und stürzte. Natürlich war ich der Überzahl an Angreiferinnen auf Dauer nicht gewachsen, doch als sie mich schließlich ergriffen, tröstete ich mich damit, sie einigermaßen eingeschüchtert zu haben. Mittlerweile hatten sich andere Frauen um unsere Gruppe geschart, und eine von ihnen, ihren Zügen nach zu urteilen die geborene Anführerin, blaffte meine Gegnerinnen barsch an. Man lockerte den Griff um mich. Dann trat die Anführerin ganz dicht an mich heran und flüsterte mir in meiner eigenen Sprache zu: »Verhalte dich so unauffällig wie möglich. Nur so kannst du hier überleben.«
Ich fiel vor Dankbarkeit fast auf die Knie. Es war seit langem das erste Mal, dass ich wieder meine Muttersprache vernommen hatte, und ich war den Tränen nah. Alles Kampflustige wich aus meiner Haltung, alles Feindselige aus meinem Gesicht. »Wer bist du?«, fragte ich die ältere Frau.
Doch sie antwortete mir nicht. Sie wandte sich den anderen Frauen der Senzala zu und erklärte ihnen auf Portugiesisch, das Spektakel sei nun beendet, und sie wünsche keine weiteren Zwischenfälle. Dann zischte sie den Frauen aus meiner Gruppe zu, sie sollten es nie wieder wagen, einer Neuen einen solchen Empfang zu bereiten. Sie zog eine von ihnen an den Haaren zu sich heran: »Und nun zu dir, diebisches Miststück. Wenn die Neue nicht sofort ihr Bündel zurückbekommt, wirst du den ganzen Sommer über in die Minen geschickt, dafür sorge ich schon.«
Die derart Abgekanzelte ging zu ihrem Platz, kramte mein Bündel aus einer Holzkiste hervor, die unter ihrer Hängematte stand, und warf es mir mit einem verächtlichen Grinsen zu. »Auf die musst du ein Auge haben, Jojo«, sagte sie zu der Älteren. »Die macht uns allen nichts als Ärger, das sehe ich ihr an.«
»Das lass mal meine Sorge sein. Wenn sie nur halb so verlogen und durchtrieben ist wie du, dann wird sie schon klarkommen.«
»Die kommt frisch aus dem Busch. Ein Tier, Jojo, glaub mir.«
Die Ältere lachte. »Dir glauben?«
»Ach, verflucht, lasst mich doch alle in Ruhe!«, schimpfte die Diebin und warf sich in ihre Hängematte.
»Du kommst mit mir«, forderte Jojo mich in meiner Sprache auf. »Und sag kein Wort«, flüsterte sie. »Es ist verboten, auf Kimbundu miteinander zu reden.«
Ich nickte und folgte ihr. Als wir an ihrem Platz angekommen waren, zwang sie alle Nachbarinnen allein durch die Schärfe ihres Blicks dazu, sich abzuwenden.
»Wie heißt du?«, fragte ich meine Retterin.
»Eigentlich heiße ich Samba. Aber mein Sklavenname ist Jojo, das kommt von Maria Joana. Und du? Du bist doch Maria Imaculada, nicht wahr?«
»Nein! Ich heiße Kasinda!«
»Psst! Es gibt überall Lauscher, die ihr Wissen gewinnbringend verraten. Also, hör mir gut zu: Hier heißt du Imaculada. Deinen alten Namen vergisst du am besten sofort. Die Senhores mögen es nicht, wenn wir unsere Taufnamen nicht benutzen.«
»Wo kommst du her?«, wollte ich von Samba wissen. »Wie bist du in Gefangenschaft geraten? Wie lange bist du schon hier? Hast du Familie? Kinder?«
»Du fragst zu viel. Was wir waren, bevor wir versklavt wurden, hat keinerlei Bedeutung mehr. Ab morgen wirst du dich anstrengen, schnell Portugiesisch zu lernen. Fürs Erste präge dir nur diesen einen Satz ein: Mein Name ist Imaculada.«
Ich wollte ihr widersprechen, doch die Autorität dieser Frau, ihre Weisheit und Güte ließen mich verstummen. Ich würde mich ihrer Führung anvertrauen, denn ohne sie wäre ich verloren. Also sagte ich leise immer und immer wieder
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