Das Lied des Kolibris
Ausrede auszudenken. Außerdem wollte sie etwas von der greisen Sklavin wissen, und im Gegenzug schuldete sie ihr wohl, ihre Erinnerungen weiter zu notieren.
»Sag mal, Imaculada, weißt du, was das heißt: ›Ki fwa o dimi‹? Oder ›Mwenyu u fwa we‹?«
»Mein Name Kasinda!«, ereiferte diese sich.
»Also schön, Kasinda. Weißt du es denn, oder nicht?«
Der Blick der Alten wirkte entrückt, als sie antwortete.
7
K i fwa o dimi, mwenyu u fwa we« – »wenn die Sprache stirbt, stirbt auch die Seele«. Wer hätte das besser gewusst als wir Sklaven, denen es unter Androhung drakonischer Strafen verboten war, sich miteinander in ihrer eigenen Sprache zu unterhalten. Da wir das Portugiesische jedoch noch nicht beherrschten, schwiegen wir.
Ein unheimlicher, stiller Zug von Gefangenen nach dem anderen wurde auf den Platz geführt und zu uns in den Pferch gesperrt. Er drohte schon aus allen Nähten zu platzen, als das Spektakel begann. Ein junger Bursche wurde herausgeholt und auf die Holzbühne gezerrt. Zwei Männer, ebenfalls dunkelhäutig, hielten den Gefangenen fest, während ein dritter um ihn herumschritt und dabei die Vorzüge des Sklaven laut herausposaunte.
»Hier haben wir ein besonders gutes Stück: männlich, etwa zwanzig Jahre alt, in tadellosem Gesundheitszustand. Alle Zähne vorhanden. Einen Meter achtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer. Lange, kräftige Gliedmaßen. Perfekt für die Feldarbeit. Das Mindestgebot liegt bei fünfzehn Milreis.«
Ein ungläubiges Aufstöhnen ging durch die Menge – das war wohl ein sehr hoher Preis. Damals verstand ich natürlich noch kein Wort von dem, was der Auktionator sagte, doch ich war später so oft auf dem Sklavenmarkt, dem
Pelourinho
, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass seine Worte diese oder aber sehr ähnliche gewesen waren.
Auf dem Platz unterhalb der Bühne hatte sich ein wahrer Volksauflauf gebildet. In den vordersten Reihen standen die Käufer, die nun einer nach dem anderen die Hand hoben, um diesen Sklaven zu ersteigern. Dahinter jedoch sah man junge Paare, die sich küssten, Kinder, die
cocadas
, süßes Kokosnusskonfekt, verkauften, und Kutscher, die Zigarren rauchten. Es trieben sich Taschendiebe dort herum und Bettler, Huren und Trickbetrüger, Lotterieverkäufer und Wahrsagerinnen. Doch auch die ehrbaren Leute waren in Scharen gekommen, darunter Matronen, die angesichts der fast nackten Schwarzen geniert zu Boden blickten, ältere Herren, die mit den Mulattinnen an den Marktständen schäkerten, oder elegant gekleidete Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, ihren schwarzen Kindermädchen fortzulaufen und sich im Gewimmel zu verstecken.
Die angepriesene Ware ging zu einem viel höheren als dem geforderten Preis weg, und das in sehr kurzer Zeit. Und so wurden wir anderen nun nacheinander auf die Bühne geschleppt. Als die Reihe an mir war, hatte ich mich bereits seelisch für das gewappnet, was mich erwartete. Vor mir waren rund dreißig Frauen verkauft worden, und ich hatte mit angesehen, wie es ihnen ergangen war. Die beiden Helfershelfer des Auktionators holten mich auf die Bühne, zerrten mir auch noch den armseligen Lendenschurz fort und hielten meine Arme so, dass ich sie nicht schützend vor meinen entblößten Körper legen konnte. Wie der Auktionator mich anpries, kann ich nur vermuten: »Einwandfreies Stück. Weiblich, etwa neunzehn Jahre alt. Alle Zähne vorhanden, guter Gesundheitszustand. Einen Meter vierundsechzig groß, fünfzig Kilo schwer. Hat kürzlich geboren, taugt als Amme. Mindestgebot: sechs Milreis.«
Mehrere Männer hoben die Hand. Ich wagte nicht, sie genauer zu betrachten. Ich hielt den Kopf gesenkt und versuchte, das Geschehen an mir abprallen zu lassen. Ich hatte ja doch keinen Einfluss darauf. Irgendwann war ich erlöst: Ein schwarzer Mann, den ich später als Vorarbeiter zu fürchten lernte, holte mich und brachte mich zu einer Kutsche, hinter der schon einige Sklaven angebunden waren. Man befestigte mich an diesem Gefangenenzug. Es kamen im Laufe des Tages noch weitere Leute hinzu. Keiner von uns traute sich, ein Wort mit den anderen zu wechseln. Meine unmittelbaren Nachbarn, die Frau vor und der Mann hinter mir, waren ohnehin aus anderen Gegenden als ich verschleppt worden, das erkannte ich an ihren Gesichtszügen und ihren Schmucknarben, so dass wir einander gar nicht verstanden hätten. Meinen neuen Besitzer sah ich an jenem Tag nur ganz kurz, als er nämlich zur Kutsche kam und sich
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