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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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nicht so ohne weiteres ausblenden. Sie alle verfügten darüber, manche in einem Maße, dass es beängstigend war. Luas Freundin Fernanda zum Beispiel war so jemand. Wenn etwas in der Luft lag, sei es Ärger oder etwas Schönes, dann merkte sie es als Erste. »Die Kerle da hinten hecken doch etwas aus«, sagte sie einmal, »und bestimmt nichts Gutes.« Die anderen beobachteten die Männer, konnten jedoch nichts Verdächtiges feststellen. Drei Tage später gelang ihnen die Flucht.
    Fernandas Äußeres gab diese beinahe übersinnliche Gabe nicht preis. Eher im Gegenteil: Sie war eine dralle Person mit einem leicht dümmlichen Lächeln, der man ihre überbordende Lebenslust sofort ansah. Weil sie so bodenständig und pragmatisch war, vermutete man in ihr einen grobschlächtigen Typ Frau, der so sehr in der Realität verhaftet war, dass er kleine Veränderungen im emotionalen Gefüge der Gemeinschaft niemals bemerkt hätte. Von wegen! Einmal sagte Fernanda unvermittelt, während sie und Lua gerade gemeinsam das Silber polierten, sie glaubte, es würde ein Junge.
    »Wer? Was?«, fragte Lua.
    »Na, das Kind von Maria José.«
    »Welches Kind?«
    »Sie ist schwanger. Wusstest du das denn nicht?«
    Lua schüttelte den Kopf und machte sich ernsthafte Gedanken über den Geisteszustand ihrer Freundin. »Sie weiß es ja selber noch nicht.«
    Acht Monate später brachte Maria José einen gesunden Jungen zur Welt.
    So war sie, die Fernanda. Aus diesem Grund hatte sie auch schon sehr früh bemerkt, dass Lua des Lesens und Schreibens mächtig war; in ihren Augen stellte das allerdings eine vollkommen überflüssige Fähigkeit dar.
    An diesem Abend nun hockten die zwei sich nebeneinander an die Kochstelle und sahen einem Bohneneintopf mit Speck dabei zu, wie er vor sich hinköchelte. Sie schwiegen geraume Zeit, bevor Fernanda endlich den Anfang machte.
    »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Lua. Aber du bist anders als sonst. Liegt es an diesem Zé? Setzt die verrückte Imaculada dir verworrene Ideen in den Kopf? Oder hat es etwas mit deiner neu erwachten Freundschaft zu Maria Segunda zu tun?«
    »Ist es so offensichtlich?«
    »Für mich schon. Irgendetwas passiert mit dir, und ich habe Angst um dich. Lässt du dich etwa in Sachen reinziehen, die dich nichts angehen?«
    Lua nickte.
    »Meine Güte, Lua, wir sind doch keine Kinder mehr. Uns geht es gut in der Casa Grande, wir haben Glück mit unseren Besitzern, wir führen ein sorgenfreies Leben …«
    »Du vielleicht.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, dass ich allmählich zu sehen beginne, wo ich bisher mit Blindheit geschlagen war«, erwiderte Lua.
    »Oje, verschone mich bloß mit deinen seherischen Kräften!«, stöhnte Fernanda. Dann sprang sie auf, rührte in dem Topf und verkündete: »Unser Essen ist fertig. Ist massenhaft Speck drin, den mir Tia Jacobina heute gegeben hat. Und da redest du von Sorgen!«
    Lua schmunzelte. Eine so reichhaltige Feijoada war in der Tat ein Grund zur Freude.
    Sie aßen, und Lua merkte, wie die Bedrücktheit von ihr abfiel. Auch das war eine Gabe, über die Fernanda verfügte: andere von ihrem Kummer abzulenken und ihnen, allein durch ihre Nähe, ein unbestimmtes Gefühl von Wohlbefinden zu vermitteln.
     
    In den nächsten Tagen geschah nichts Bemerkenswertes. Das Wetter war schön, alles wuchs und gedieh prächtig, und die Herrschaft war guter Dinge, weil sie sich hohen Profit versprach. Dona Ines schenkte den Sklaven eine Handvoll guter Zigarren, weil sie mit ihrer Arbeit so zufrieden war. In Wahrheit war sie aber nur zufrieden mit ihrem Herrn Gemahl, der sie nach langer Zeit einmal wieder auf dem Ehelager beglückt hatte. Lulu und die dicke Maria waren Zeugen gewesen, der eine hatte durchs Schlüsselloch zugesehen, die andere im Nebenraum gelauscht.
    Da die Familie Oliveira so sehr an die ständige Gegenwart dienstbarer Geister gewöhnt war, nahm sie sie kaum noch wahr. Manchmal unterhielten sie sich über Dinge, die besser geheim geblieben wären, weil es ihnen einfach nicht in den Sinn kam, dass die Sklaven Interesse oder auch nur genügend Verstand für ihre Gespräche aufbrachten. So war es auch an dem Samstagabend, an dem der junge Sinhô Carlos aus der Hauptstadt zu Besuch war.
    Es wurden so viele Speisen aufgetischt, dass man mit einer größeren Gesellschaft hätte rechnen können, aber die Familie blieb unter sich. Es gab Schweine- und Rinderbraten sowie feinbuttrige Farofa, gebratenes Maniokmehl, dazu frittierte

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