Das Lied des Kolibris
Senzala ein herrliches Spielzeug abgäbe, bat Lua die Sinhazinha sogar um Erlaubnis für ihren verbotenen Ausflug.
»Ich erinnere mich noch daran!«, rief diese entzückt aus. »Carlos und ich haben Manuel darin immer den steilen Hügel hinter den Papayabäumen hinunterrollen lassen.«
Lua stimmte in ihr Lachen mit ein, obwohl in ihr ganz andere Erinnerungen lebendig waren. Die drei hatten nämlich
sie
unzählige Male in dem Wägelchen den Hügel hinuntergeschubst und sich über ihr Geheul amüsiert.
»Zeig ihn mir noch mal, bevor die schwarzen Gören ihm den Garaus machen«, sagte die Sinhazinha und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Lua verließ flugs ihr Zimmer, bevor ihr etwas Neues einfiel, womit sie sie behelligen konnte.
Diesmal empfand Lua den Keller als nicht gar so gruselig wie beim ersten Mal. Sie begab sich ohne Zögern zu dem Verlies, öffnete die Sichtklappe und rief leise hindurch: »Ich habe euch wieder etwas zu essen gebracht.«
Nichts rührte sich.
Sie versuchte, in dem düsteren Kerker etwas zu erkennen, doch das Licht ihrer Lampe reichte nicht weit genug.
»Ist hier jemand?«, versuchte sie es erneut.
Ein leises Röcheln war zu hören. Dann ein Stöhnen sowie das Geraschel von Stroh. Jemand versuchte, zu der Luke zu kriechen.
Als sie das Gesicht hinter der Öffnung sah, musste sie an sich halten, um nicht aufzuschreien. Es war nur noch eine klebrige Masse aus Blut und Hautfetzen.
»Zeca?«, fragte sie. Es hätte jeder von den vieren sein können, denn die Züge waren kaum noch erkennbar.
Er nickte.
»Bist du allein? Wo sind die anderen?«, fragte sie.
»Man hat uns getrennt«, lallte er, »und einzeln verhört.« Dann brach er in ein erbarmungswürdiges Schluchzen aus. Lua deutete es als Geständnis, dass er die anderen oder einen der anderen verraten hatte.
»Hier, das ist von Maria Segunda.« Lua reichte ihm den Stein, woraufhin er nur noch heftiger heulte. »Und das ist von mir.« Sie gab ihm die Nahrungsmittel. Dann ging sie. Sie konnte seinen Anblick nicht länger ertragen, und noch viel weniger ertrug sie den Gedanken, dass er womöglich auch sie verpfiffen hatte. In dem Kerker musste man Einmachgläser gefunden haben, und unter Folter hatte Zeca oder auch einer der anderen gewiss ihren Namen preisgegeben.
Im Fortgehen murmelte Lua leise: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder …«
9
D ie Auspeitschung fand an einem Sonntag statt.
Es war sehr früh am Morgen, doch die Sommerhitze lag bereits bleiern auf São Fidélio – nicht so drückend allerdings wie die Stimmung, die sich unter sämtlichen Bewohnern, schwarzen wie weißen, breitgemacht hatte. Es war gespenstisch. Waren gewöhnlich um diese Uhrzeit das fröhliche Plappern von Kindern, hier und da das Summen von Liedern und die frechen Sprüche der Burschen zu hören, so vernahm man nun einzig das Gezwitscher der Vögel. Doch selbst das klang merkwürdig traurig. Die Stille, die Lua sich sonst so sehnlich wünschte, kam ihr nun vor wie ein böses Omen.
Der Gefangene wurde in die Mitte des Hofs geführt. Der Padre sprach ein Vaterunser, in das der Gefangene nicht mit einstimmte, so dass selbst der Pfarrer allmählich die Notwendigkeit der Strafe für diesen halsstarrigen Kerl einsah. Zuvor hatte er sich der Auspeitschung nämlich heftig widersetzt, zumal sie an einem Sonntag stattfinden sollte.
»Wann denn sonst?«, hatte Dom Felipe ihn angefahren. »Sollen wir einen halben Arbeitstag verlieren? Außerdem haben die anderen Neger danach in Eurem Gottesdienst die Möglichkeit, über ihr Verhalten nachzudenken und dem lieben Gott dafür zu danken, dass es sie nicht getroffen hat.«
Es waren alle Sklaven dazu angehalten worden, der Auspeitschung beizuwohnen. Selbst kleine Kinder und herzschwache Greise wurden nicht verschont. Sie mussten sich im Halbkreis um den an einen Pranger gefesselten Mann aufstellen. Die Sonne brannte gnadenlos auf sie herab, und vor Unbehagen angesichts des bevorstehenden Schauspiels trippelten sie von einem Fuß auf den anderen. Die drei Kumpane von Zé, die ihn dieser Tortur ausgeliefert hatten, standen gefesselt in der ersten Reihe. Bestimmt wollte man ihnen so vor Augen halten, was ihnen drohte, wenn sie erneut etwas anstellten. Soviel Lua wusste, waren die drei diesmal mit einmonatiger Kerkerhaft davongekommen.
Die Familie Oliveira sah sich das Schauspiel von der Veranda des Herrenhauses aus an, auf der sie alle fünf im Schatten saßen und Kaffee tranken.
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