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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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die Idee, Lua – und nur sie – müsse ihr den Kaffee auf ihre besondere Art zubereiten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihre Dienerin auch bei Tisch mit ihren Sonderwünschen triezte. Doch diesmal schien sie Lua gar nicht wahrzunehmen. Sie schien ähnlich gespannt wie die junge Sklavin, was ihr Vater zu den Argumenten der Söhne sagen würde. Immerhin war er der Senhor auf São Fidélio, er musste ein Machtwort sprechen. Doch wie so oft hielt er sich aus unangenehmen Dingen heraus und überließ es seiner Frau, eine Entscheidung zu treffen.
    »Ihr habt beide recht«, sagte Dona Ines schließlich. »Und beide Lösungen lassen sich in diesem Fall besonders gut miteinander kombinieren. Ich schlage also vor, sofern euer Vater nichts dagegen einwendet, dass wir zunächst die Verhöre so durchführen, wie Manuel es vorgeschlagen hat. Wenn wir einen Schuldigen ausgemacht haben, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das geschehen wird, soll dieser öffentlich ausgepeitscht werden. Dabei werden wir keine Milde walten lassen – mindestens fünfzig Hiebe halte ich für angemessen.«
    »Aber
mãe!
Fünfzig Peitschenhiebe sind tödlich!«, rief Eulália erschrocken aus.
    »Sehr richtig«, antwortete Dona Ines trocken.
    Damit war das Thema erledigt. Man wandte sich schöneren Angelegenheiten zu, wie der Verlobung von Eulália und Rui Alberto, den Studien von Carlos sowie der lang ersehnten Lieferung eines venezianischen Kristallkronleuchters, die für den nächsten Tag angekündigt worden war. Man sprach über das Wetter, über die Nachbarn und ihre Marotten, über die neueste Mode aus Paris und über einen jungen aufsteigenden Künstler, der von allen Familienmitgliedern Porträts anfertigen sollte. Dom Felipe beteiligte sich erst rege an dem Gespräch, als die Rede auf eine Zuchtstute kam, die er kaufen wollte, und Manuel sagte gar nichts mehr, sondern kratzte mit der Dessertgabel grafische Muster in das Damasttischtuch.
    Als sich alle erhoben und einander eine gute Nacht wünschten, riss Sinhá Eulália Lua unsanft aus ihren Grübeleien.
    »Lua, nun steh doch nicht da wie ein Mondkalb!« Sie gluckste über ihr eigenes billiges Wortspiel. »Du kommst mit rauf und massierst mir die Beine mit Mentholsalbe. Die Hitze bringt mich um, meine Beine fühlen sich an, als würden sie platzen.«
    Lua tat wie ihr geheißen. Die Mentholsalbe brachte ihrer Meinung nach die Beine erst recht zum Glühen, aber die Sinhazinha schwor auf diese vermeintlich kühlende Maßnahme. Ihre Beine und Füße sahen keineswegs geschwollen aus. Sie waren sehr dünn und zart und von durchscheinendem Weiß. Lua knetete und drückte und walkte, bis ihre eigenen Hände ganz heiß wurden. Sie hatte einen kleinen Riss am Fingernagel, und die Salbe brannte höllisch. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Bald würde sie ihre Hände waschen und sich hinlegen können, je eher, desto besser. Sie dachte an nichts anderes als an das vorhin Gehörte. Würde sie die Gefangenen noch rechtzeitig warnen können? Konnte sie irgendetwas unternehmen, um eine Auspeitschung zu verhindern? Sollte sie Maria Segunda berichten, was sie wusste?
    In der Senzala ergab sich keine Gelegenheit, mit Maria Segunda zu sprechen, ohne dass es alle mitbekommen und sich gewundert hätten. Jeder wusste um die Rivalität zwischen Haus- und Feldsklaven, genauso wie jeder wusste, dass Lua sich der Casa Grande näher fühlte als der Senzala.
    Lua wälzte sich in ihrer Hängematte hin und her. Ihre Gedankensplitter waren scharfkantig und so klein, dass sie sich zu keinem Ganzen mehr zusammenfügen ließen. Als sie endlich einschlummerte, fand sie jedoch auch im Schlaf keine Erlösung. Wirr und düster waren ihre Träume. Sie erwachte wie gerädert.
     
    Zwei Tage nach dem Beschluss der Familie Oliveira, eine so harte Strafe an dem Übeltäter zu vollziehen, ergab sich für Lua die Möglichkeit, wieder in den Keller zu gehen. Maria Segunda hatte ihr tags zuvor einen Stein in die Hand gedrückt, einen kugelrunden, glatten, schwarzen Stein, der wohl so etwas wie ein Glücksbringer sein sollte. Diesen hatte sie dabei, genau wie Braten- und Kuchenreste, die sie in der Küche unter den Augen Tia Jacobinas eingesteckt hatte. »Ist für den Jungen von der Ana, er war sehr krank.«
    »Na, dafür hat er jetzt einen mehr als gesunden Appetit«, sagte die Alte, ließ Lua aber gewähren.
    Unter dem Vorwand, sie habe im Keller kürzlich zufällig einen alten Rollwagen entdeckt, der für die Kinder in der

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