Das Lied des Kolibris
Obhut und wurden aus meiner Brust gesäugt. Zeitweise ernährte ich allein mit meiner Milch fünf Kinder. Obwohl ich mir immer gewünscht hatte, der junge Herr Sebastião möge seiner Frau öfter beiwohnen und mich verschonen, war ich nun froh, dass er es offenbar nicht tat. Denn ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich ihr Kind ebenfalls hätte stillen müssen. Vielleicht hätte ich ihm einen bösen Geist eingehaucht oder es mit dem Fluch der Ängstlichkeit belegt.
Die Leute unterschätzen die Macht einer Amme. Sie wissen nicht um die enge Bindung, die aus dem Kontakt eines saugenden hungrigen Mündchens mit einer sprudelnden Quelle reinsten Lebenssaftes hervorgeht. Ich aber spürte sehr wohl, wie sehr die Kinder an mir hingen, wie stark sie sich von mir und meinen Launen beeinflussen ließen. Ich war ihnen mehr Mutter, als ihre leiblichen Mütter es je sein durften. Noch viele Jahre später, als meine Schützlinge zu Kindern und dann zu jungen Erwachsenen heranreiften, waren ihre Zuneigung zu mir und der Respekt, den sie mir entgegenbrachten, sehr viel ausgeprägter als ihre Liebe zu den eigenen Müttern. Mir war klar, dass die frühe Trennung von Müttern und Kindern genau dies bewirken sollte. Wo es keinen familiären Zusammenhalt gibt, da ist der Einzelne schwach und ungeschützt den Launen seiner Herrschaft ausgesetzt. Dass aber durch das Fremdsäugen so enge Bande zwischen einer Frau und einem Kind entstehen konnten, das ahnten gewiss nur wenige. Hätten die Weißen sonst ihre Kinder den Schwarzen zum Stillen überlassen?
Denn das taten sie, diese Scheusale, die uns »Wilde« nannten. Jedes Tier war zärtlicher zu seiner Brut als unsere hellhäutigen »Besitzer«. Viel empörender noch waren jedoch die Gründe, die sie dafür hatten: Die Frauen wollten ihre Körper nicht ruinieren. Ihnen waren straffe Brüste wichtiger als glückliche Säuglinge, ist das zu fassen? In Ngola waren wir Frauen stolz auf die Male, die unsere Körper von den Geburten davontrugen. Dehnungsstreifen auf dem Bauch und hängende Brüste trugen wir wie Auszeichnungen vor uns her, denn sie waren die sichtbaren Beweise unserer Fruchtbarkeit und unserer Nützlichkeit für die Gemeinschaft. Dass ich nach vier Schwangerschaften immer noch den schlanken, festen Körper einer Jungfrau hatte, war mir damals wie eine Strafe erschienen.
Aber damit war es nun endgültig vorbei. Nach der fünften Geburt sah man mir die Mutterschaft an, und meine Arbeit als Amme sorgte dafür, dass meine Brüste anfingen zu hängen. Nach einer geraumen Weile merkte das auch der Sinhô Sebastião.
Und endlich ließ er von mir ab.
13
E s vergingen mehrere Monate, in denen Lua die Gesellschaft Imaculadas mied und sich von allen Aktivitäten fernhielt, die auch nur annähernd mit aufrührerischem Gedankengut in Verbindung gebracht werden konnten. Sie wagte es kaum noch, einen Fuß in die Bibliothek zu setzen. Fernanda warf ihr vor, nicht mehr dieselbe zu sein wie früher. »Du lachst weniger, du singst abends nicht mehr mit uns und lauschst auch nicht mehr den Geschichten der Alten. Nicht einmal Mangos klaust du. Was ist mit dir? Ist es wegen Zé?«
Zé, pah! Der Kerl war schnell wieder gesund geworden. Dom Felipe und Dona Ines hatten mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verkaufen, am besten an eine weit entfernte Fazenda, um jegliche Erinnerung an die unschöne Episode zu tilgen. Doch Sinhá Eulália hatte darauf bestanden, dass es ja ihr Sklave sei und dass sie ihn behalten wolle. Man könne ihn ja vor Gästen tanzen lassen, denn er habe eine phänomenale Körperbeherrschung. Außerdem würden die Narben auf seinem Rücken für einen schaurigen Effekt sorgen, der die Eleganz seiner tänzerischen Darbietung aufs faszinierendste betonte. Lua war neu, dass die Sinhazinha zu einer solchen Argumentation überhaupt fähig war. Vielleicht hatte ihr Verlobter ihr diese Idee eingegeben, Sinhô Rui Alberto, der in wenigen Tagen auch vor aller Welt ihr zukünftiger Bräutigam wäre: Am kommenden Freitag sollte die offizielle Verlobungsfeier stattfinden.
Lua hatte Fernanda nichts von der Goldmünze und der schrecklichen Prüfung erzählt, der man sie unterzogen und die sie nur knapp bestanden hatte. Lua wusste nicht, warum sie ihr das alles verschwieg, warum sie es aller Welt verschwieg. Nicht einmal bei der Beichte war sie aufrichtig – wobei der Padre natürlich wesentlich redseliger und weniger vertrauenswürdig war als Fernanda. Vielleicht war es die Angst, sie
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