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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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von ihnen – weil er sich nicht an die Regeln gehalten hatte. Dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihm diese zuvor zu erklären, spielte keine Rolle. Perfiderweise war es in jedem Kampf eine andere Regel, die er angeblich brach, so dass er nicht einmal aus seinen Fehlern lernen konnte. Die Zuschauer grölten und tobten, als sie den derart Besiegten in der Mitte des Platzes stehen sahen, mit vor Anspannung zitternden Muskeln und gefletschten Zähnen wie ein Jaguar vor dem Angriff.
    Mbómbo wusste sich keinen anderen Rat, als den besten der Wettkämpfer zu einem Kampf herauszufordern, den dieser nicht ablehnen konnte. Mbómbo warf ihm nämlich einen Stock zu und bedeutete ihm, mit diesem auf ihn einzuschlagen. Zunächst weigerte sich der junge Indio, ein muskulöser und äußerst wendiger Mann ungefähr in Mbómbos Alter. Es erschien ihm nicht recht, mit einer Waffe auf einen wehrlosen Gegner einzudreschen, der ohnehin schon verloren und sich zum Gespött gemacht hatte. Doch Mbómbo bestand darauf.
    Die Zuschauer hielten den Atem an. Wollte der Fremde seinen Tod beschleunigen und ihn auf möglichst ehrbare Weise erkämpfen? Das flößte ihnen einen gewissen Respekt ein, so dass ihr Gelächter nach und nach abebbte. Irgendwann war es so leise auf dem Dorfplatz, dass man das Sausen des Stockes hörte, den der junge Indio plötzlich auf Mbómbo niederfahren ließ. Man hörte ebenfalls die Bewegungen der Füße im Staub, die rasche Drehung des Schwarzen und seinen Tritt, der den überraschten Indio an der Schulter traf. Ein mitfühlendes Stöhnen ging durch die Menge.
    Und dann war der junge Krieger nicht mehr zu halten. Er schwang zornig den Stock, zog ihn zurück, versuchte, den Gegner in die Irre zu leiten, und schlug dann … ins Leere. Denn Mbómbo war ebenso geschmeidig wie schnell. Er wirbelte herum, die Beine senkrecht zum Spagat gespreizt, und verwirrte seinen Gegner zusehends mit seiner Akrobatik. Er schlug Saltos nach vorn und Saltos rückwärts, er flog förmlich und schaffte es immer aufs Neue, den Schlägen auszuweichen. Allerdings war der junge Indio nicht minder findig und schnell. Es gelang Mbómbo zunächst kein zweites Mal, ihn an einer empfindlichen Stelle zu treten oder zu schlagen.
    Je verbissener die beiden kämpften, desto mehr erholte sich das Publikum von seiner anfänglichen überraschten Starre. Man feuerte die beiden nun an und rief »ah« und »oh«, wenn ein besonders raffinierter Schlag oder Sprung ausgeführt wurde. Mittlerweile war auch Häuptling Apoenã an den Rand des Rings getreten, um sich davon zu überzeugen, dass seine Söhne ihm die Wahrheit erzählt hatten. Eigentlich nämlich waren die Wettkämpfe vorbei und entschieden, der Tod des Schwarzen besiegelt. Vor der Siegerehrung gönnte man allen ein wenig Ruhe, so dass er selbst auf seiner Strohmatte gelegen und nachgedacht hatte, bevor die Feierlichkeiten weitergingen. Doch mit der Ruhe war es auf einen Schlag vorbei, als ihm seine beiden jüngsten Söhne zutrugen, was sich da auf dem Dorfplatz tat. Apoenã konnte nicht glauben, dass der Fremde ein so schlechter Verlierer war, dass er einen Kampf anzettelte. Er spürte seinen Zorn hochkochen.
    Als er jedoch das Geschehen beobachtete, war er wider Willen fasziniert von der Körperbeherrschung des Schwarzen. Das war reinste Magie! Nie zuvor hatte er einen Menschen gesehen, der solche Bewegungen ausführen konnte, und das so flüssig und ohne sichtliche Anstrengung, dass es wirkte wie ein Tanz. Apoenã kam aus dem Staunen nicht heraus. Der Mann sprang wie ein Jaguar, flog wie ein Papagei und führte raffinierte Täuschungsmanöver aus wie ein
mico-saguí
, ein Äffchen. Die Eleganz dieser Darbietung war grandios, denn nichts verriet die Kraft, die in den Tritten und Hieben lag, die der Fremde sparsam, aber zielgerichtet austeilte. Obwohl er mangels einer Waffe im Nachteil hätte sein müssen, insbesondere gegen den sehr versierten Kämpfer Cauã, sah es nicht nach einem schnellen Sieg des Indios aus.
    Und dann traf, wie aus dem Nichts heraus, mitten aus einer grazilen Umdrehung in der Luft, der Fuß des Schwarzen auf den Stock des Gegners. Der Stock flog in hohem Bogen fort und hätte beinahe die Zuschauer in der ersten Reihe getroffen. Alle hielten die Luft an. Würde der Tiertänzer nun zum letzten, tödlichen Tritt ausholen? Cauã war ebenso entsetzt über den Verlust seiner Waffe wie seine Stammesmitglieder. Ohne den Stock hätte er der Technik und Kraft des Schwarzen

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