Das Lied des Kolibris
selbst war natürlich auch nicht ohne Fehler. Er verzieh es sich lange nicht, vor Hunger ein Äffchen mit dem Pfeil geschossen zu haben, das, wie er aus Erfahrung wusste, nicht sehr schmackhaft war, das er aber eben traf. Wählerisch durften sie hier nicht sein. Es war ein hochschwangeres Weibchen gewesen, und als Marilu das Tier ausnahm und den Fötus entdeckte, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Keinem schmeckte das grausige Mahl – und am nächsten Tag mussten sie sich obendrein mit einem aggressiven Affenmännchen herumplagen.
Zu all den Schwierigkeiten, die das Leben im Dschungel mit sich brachte, gesellten sich die unerfüllten Sehnsüchte der vier, über die gern und lange lamentiert wurde.
»Was gäbe ich für einen Kaffee, mit viel Milch und Zucker!«, träumte Luizinho laut vor sich hin.
»Und für eine schöne Zigarre!«, ergänzte João.
»Mir fehlt die Musik«, gestand Zé.
»Und mir der Klatsch mit anderen Frauen«, sagte Marilu.
Es fehlte außerdem an Salz, Brot, Milchprodukten, Stoffen und Garnen, Werkzeugen, Gerätschaften für den Haushalt, also Töpfen, Tellern oder auch einem Waschbrett. Sie vermissten die süßen Früchte, die in sonnigeren Gefilden gediehen, nicht aber im immerwährenden Halbdunkel des Waldes. Sie hätten sich gern mit einem Zuckerrohrschnaps über die Trostlosigkeit der Abende hinweggetröstet, und sie verzehrten sich förmlich nach einem süßen, saftigen Kokoskuchen.
Auch Zé war der Entbehrungen müde. Sicher, überleben konnte man hier. Aber was war das für ein Leben, mit nichts als einem Blätterdach über dem Kopf, einem Lendenschurz als Kleidung und einer sehr begrenzten Auswahl an Nahrungsmitteln? Wer konnte das auf Dauer durchhalten? Als Marilu eines Tages mit ihm unter vier Augen reden wollte, war Zé daher wenig überrascht, als er hörte, worum es ging.
»Ich weiß nicht, ob ich die Freiheit so schön finde«, sagte sie. »Ich würde gern wieder mit Ana quatschen, dabei ein Pfeifchen rauchen und ein Gläschen kippen. Ich krieg Bauchweh vor Appetit, wenn ich nur an eine schöne Moqueca oder einen
bolo de banana
denke, und ich will nachts friedlich in meiner Hängematte schlafen, ohne beim kleinsten Geräusch aufzuwachen, weil ich denke, dass mich ein Jaguar angreift. Ich will wieder eine weiße, gestärkte Schürze tragen und ganz ehrlich, ich würd auch gern wieder die peinlichen Auftritte der hübschen Senhora aus der Casa Grande sehen, selbst wenn sie nur abfällige Worte für uns übrighatte.«
Zé betrachtete nachdenklich seine Hände und schwieg.
»Bist du jetzt entsetzt?«, forschte Marilu nach. »Denkst du, ich tauge nicht für die Freiheit?«
»Ach, Marilu«, seufzte Zé. Er wusste nicht, was er der jungen Frau antworten sollte. Dass er sie verstand? Dass es ihn unendlich traurig machte zu wissen, was ein Leben in Sklaverei, in Verbindung mit einem Mindestmaß an Komfort, mit den Menschen anstellte? Dass er sogar an sich selbst, obwohl er sich doch für stark und unbeugsam hielt, ähnliche Anzeichen wahrgenommen hatte? Oder sollte er ihr vielmehr ins Gewissen reden, ihr die Freiheit schmackhaft machen, ihr die Zukunft in leuchtenden Farben ausmalen? Konnte er das guten Gewissens tun?
»Weißt du, Marilu, mir fehlen auch ganz schön viele Sachen von früher.«
Er spürte ihre Erleichterung, als sie ausatmete und die angespannten Schultern fallen ließ.
»Ja, es ist ziemlich hart hier draußen. Aber immer wenn es mir unerträglich erscheint, stelle ich mir vor, wie einer von uns am Pranger stand oder ausgepeitscht wurde. Und dann sage ich mir: Lieber sterbe ich, weil ein wildes Tier mich auffrisst, denn dann hat mein Tod ja wenigstens einen Sinn, weil es den Bauch eines anderen Lebewesens füllt. Welchen Sinn aber hat es, für einen reichen Senhor sein Leben zu lassen, dessen Bauch eh schon mehr als voll ist?«
»Hm.« Marilu war nun ihrerseits ratlos, was zu antworten sei.
»Denk drüber nach. Und wenn du dann immer noch glaubst, dass du wieder heimwillst, dann geh halt. Meinen Segen hast du. Denk aber dran, was dir blüht, wenn du zurückkehrst. Die Strafe wird härter sein als alles, was uns hier im Wald zustoßen könnte. Die Pfeife mit Ana wirst du wohl nicht mehr rauchen können.«
Hier brach Marilu in Tränen aus. Sie traute sich nicht, Zé zu gestehen, was dieser ohnehin längst wusste: dass ihre Flucht nicht gut durchdacht gewesen war und dass sie die Folgen nicht hatte abschätzen können. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie
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