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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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können, tröstete sie ein wenig.
    Die beiden Männer verschwanden im Haus, doch die Kutsche fuhr nicht gleich wieder an, weil der Fahrer noch den Huf des Pferdes untersuchte, in dem sich anscheinend ein Stein schmerzhaft verkeilt hatte. Lua erkannte ihre einzige Chance: Sie schlich sich an die Kutsche heran, kletterte so vorsichtig und leise wie möglich auf den Vorsprung, auf dem normalerweise Gepäck befördert wurde, und klammerte sich fest. Eine schier endlose Zeitspanne verstrich, bevor der Kutscher endlich anfuhr. Als der Wagen gerade um die Kurve bog, hörte Lua das Geschrei aus dem Hurenhaus: »Wo ist sie, die elende Schlampe! Haltet sie auf!«
    Man hatte ihr Verschwinden bemerkt.
     
    Die Kutsche hielt erst an, als sie das Stadtgebiet längst hinter sich hatten. Lua konnte sich kaum noch halten, ihre Arme und Hände waren verkrampft, ihre Beine zitterten vor Anspannung. Der Kutscher stieg ab und zog an der Glocke neben dem Eingangstor des Gebäudes, vor dem sie zum Stehen gekommen waren, offenbar ein Kloster. Er wechselte einige Worte mit einer Nonne, reichte ihr ein kleines Beutelchen, das er unter seinem Mantel hervorzog, und begab sich dann wieder zu seinem Gefährt. Als er anfuhr, sprang Lua ab. Der Kutscher hatte nichts von seiner blinden Passagierin bemerkt, würde also auch nicht verraten können, wo Lua geblieben war, wenn man ihn befragte.
    Nachdem die Kutsche fort war, war es auf der Auffahrt vor dem Kloster gespenstisch still. Niemand war zu sehen, nichts zu hören, sogar die Luft und die Natur schienen hier innezuhalten, um die Schwestern nicht in ihrer heiligen Kontemplation zu stören. Der Mond erhellte den sandigen Weg, und Lua kam es vor, als leuchtete sie selbst, so auffällig war ihre Erscheinung hier mitten in der Nacht. Sie ging zu dem Tor und zog an der Glocke.
    Es dauerte ein wenig, bis sie schlurfende Schritte von drinnen vernahm. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und eine hörbar verstimmte Frau fragte missmutig: »Was gibt es denn jetzt noch, dass du uns schon wieder in unserer Nachtruhe stören musst?«
    »Oh, ich … es tut mir leid.« Lua sah der Nonne ins Gesicht, die ungläubig die Tür aufgerissen hatte und die fremde Besucherin anstarrte.
    »Wer bist du?«
    Lua legte ihre besten Manieren an den Tag. Sie knickste artig und senkte den Blick. »Mein Name ist Maria Fernanda«, log sie. »Ich bin … aus einem öffentlichen Haus geflohen, wo man mir, ähm, unaussprechliche Dinge antun wollte.«
    »Oje, du armes Ding! Komm erst mal herein.« Die Nonne, die zunächst so abweisend gewirkt hatte, ging nun ganz auf in mütterlicher Fürsorge um das arme gefallene Mädchen, das sie vor sich zu haben glaubte. Sie führte Lua in die Küche, bedeutete ihr, sich an einen großen Tisch zu setzen, und bereitete ihr einen Becher mit heißer Honigmilch zu.
    »Ich will noch vor Sonnenaufgang zur Prima erscheinen, unserer ersten Andacht des Tages, so dass mir zum Schlafen nicht viel Zeit bleibt. Ich schlage daher vor, dass du morgen der Äbtissin deine traurige Geschichte erzählst.«
    Lua nickte eifrig. Nichts lieber als das, dachte sie. Wenn sie erst einmal ausgeschlafen wäre und sich gesammelt hätte, würde sie den braven Schwestern schon eine schöne, rührselige Mär auftischen können.
    Die Nonne führte Lua in eine winzige, karge Kammer, wünschte ihr eine gesegnete Nachtruhe und verließ den Raum. Lua atmete auf, erschrak jedoch gleich wieder, als sie hörte, dass die Nonne die Kammer von außen abschloss. Hatte die gute Frau etwas geahnt? Würde man sie hier gefangen halten, bis man ihre Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft hatte? Oder verhielt es sich einfach nur so, dass man Fremden nicht über Nacht die Gelegenheit geben wollte, das Kloster zu bestehlen?
    Wer wusste schon, wie viele ehrlose Frauen sich auf diese Weise Zutritt zu dem Gemäuer verschafften, um die Ordensschwestern zu berauben?
    Lange grübelte Lua allerdings nicht über diesen Fragen. Kaum hatte sie sich auf der Strohmatratze ausgestreckt, schlief sie auch schon ein.
    Sie erwachte von einem Klopfen an der Tür. Da die Fensterläden geschlossen waren, konnte Lua unmöglich die Tageszeit bestimmen. Sie hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Dann betrat eine Nonne ihr Zimmer. Es war nicht dieselbe wie am Vorabend.
    »Steh auf, es ist bald Zeit für die Tertia. Danach bekommst du Frühstück.«
    Lua nickte. Sie wusste nicht, was die Tertia war,

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