Das Lied des Kolibris
lang gedient, sie waren meine Familie, und ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen.«
»Ach?«, sagte die Nonne mit spöttisch hochgezogenen Brauen. »Und dass du lesen kannst, das haben die Oliveiras auch gebilligt?«
»Ähm, nein. Niemand weiß etwas davon. Ich habe das so nebenbei aufgeschnappt, weil ich beim Unterricht der Sinhazinha immer zugegen war, mir aber niemand Aufmerksamkeit geschenkt hat.«
»Du bist ein kluges Kind. Schade, dass du nicht aus einer reichen, weißen Familie stammst, dann würden wir dich hier mit Kusshand aufnehmen.«
»Aber könnt Ihr mich nicht auch so nehmen, als Sklavin, meine ich? Ich kann sticken und klöppeln, kann festliche Tafeln decken und Silber polieren, ich kann schöne Frisuren aufstecken und …« Lua stockte. Sie merkte selbst, dass all ihre Fertigkeiten hier nicht gebraucht wurden.
Die Äbtissin schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe schon gemerkt, dass du so einiges kannst. Aber verrate mir doch bitte: Wie kam es, dass du gestern mit der Kutsche des Doutor Azevedo hier angekommen bist?«
»Die Kutsche hielt vor dem Bordell. Nachdem der Passagier ausgestiegen war und der Kutscher wieder anfuhr, bin ich hinten aufgesprungen. Ich kannte das Ziel nicht. Es war reiner Zufall, dass ich hier gelandet bin.«
Die Äbtissin überschlug rasch im Kopf, was der Doktor als »Buße« springen lassen würde, wenn sie ihn mit seinem liederlichen Lebenswandel konfrontierte. Unterdessen war der Name des Kutschenbesitzers in Luas Bewusstsein vorgedrungen – es war derselbe Doutor Azevedo, den sie gestern angeblich hatte aufsuchen wollen und zu dessen Haus die Polizisten sie geführt hatten. Sie spürte einen Lachkrampf in sich aufwallen. Sie wehrte sich noch ein wenig dagegen, doch nach kurzer Zeit brach schallendes Gelächter aus ihr hervor, vermischt mit Tränen und hysterischen Schluchzern. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen, und sie lachte so heftig, dass sie irgendwann Schluckauf bekam und darüber nur noch mehr lachen musste.
Die Nonne lächelte milde. Manchmal waren die Entscheidungen, die die Pflicht ihr abverlangten, gar nicht mal die schlechtesten. Mit einer Wahnsinnigen wollte sie lieber nichts zu schaffen haben.
25
Z é hörte es als Erster: Jemand näherte sich ihrer armseligen Siedlung. Lautlos verständigte er die anderen, die sich rasch mit Pfeil und Bogen bewaffneten und sich auf Bäumen oder im Gebüsch versteckten. Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, ehe sie die Leute sahen. Zwei abgerissene, abgemagerte und verdreckte Gestalten, die sich nur mit Mühe aufrecht halten konnten. Als sie aus dem Unterholz traten, erkannte man, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelte.
»Ist hier jemand?«, rief der Mann. Seine Stimme drohte vor Schwäche zu versagen.
»O Gott, sie sind bestimmt alle von den Wilden aufgefressen worden!«, jammerte die Frau.
Zé sprang von seinem Ast herab und erschreckte die beiden unfreiwillig fast zu Tode. »Sind wir nicht. Uns geht es sehr gut hier. Willkommen. Ich bin Zé.«
Die Frau fiel heulend auf die Knie, so groß war ihre Erleichterung, dass sie es tatsächlich geschafft hatten. Sie kannte Zé nicht persönlich, doch seinen Namen hatte sie wie den des Messias während der ganzen Wegstrecke vor sich hin gebetet. Bei Zé, so hatte man auf ihrer Fazenda gemunkelt, sei man in Sicherheit. Wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte, wusste sie nicht, aber sie wusste, dass sie diesem winzigen Lichtblick, dem einzigen Hoffnungsschimmer in ihrem trostlosen Dasein, folgen würde wie einer wegweisenden Fackel.
Sie schluchzte noch immer erbarmungswürdig, aber der Mann hatte sich bereits gefasst. »Iiiichch bin Caca der Stotterer, und ddddas ist mmmeine Schwester Bebel. Wwwir kommen vvom ›Sssolar do Cacacastelo‹. Sind seit ddrei Wwwochen unterwwegs.«
Inzwischen waren auch João, Luizinho und Marilu aus ihren Verstecken gekommen und begrüßten die Neuankömmlinge, allerdings eher verhalten. Ein vergleichsweise mitfühlendes »Mensch, ihr seht ja aus!«, kam da, neben einem herzlosen »Wie brauchbare Arbeitskräfte wirkt ihr nicht gerade«. Obwohl die vier sich verzweifelt nach neuen Gesichtern, nach Abwechslung und nach Zuwachs in ihrer Siedlung gesehnt hatten, war ihnen nun, da der Fall eintrat, ein wenig ängstlich zumute. Würde man sich mit den Neuen vertragen? Würden die einem anfangs nicht die Haare vom Kopf fressen und überhaupt nur Arbeit machen?
Zé staunte. »Vom Solar do Castelo? Das ist
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