Das Lied des Kolibris
Haus, wo ich einen abstoßenden, sehr haarigen Mann habe sagen hören, dass er mich … o Gott, es war so schrecklich!« Lua gelangen ein paar echte Schluchzer, so sehr hatte sie sich in Fahrt geredet.
Die Äbtissin schaute sie nachdenklich an. Nein, eine Hure hatte sie gewiss nicht vor sich. Aber irgendetwas an dieser Geschichte stimmte nicht. Warum war das Mädchen nach seiner Flucht aus dem Bordell nicht nach Hause gerannt? Warum hatte es nicht die Polizei gerufen oder seinem Vater alles berichtet, damit dieser sich den Mädchenräuber einmal vornahm?
Vielleicht, dachte die Äbtissin, hatte sogar der Vater seine Finger in dem schmutzigen Spiel? Es gab nicht wenige, die, mittellos geworden, ihre Töchter meistbietend feilboten. Vielleicht war die junge Frau eine Ausreißerin. Dennoch würde sie ihr in diesem Fall nicht helfen können. Die Eltern hatten das Sorgerecht über ihre Kinder, da durfte sie sich nicht einmischen. Vielleicht war diese Maria Fernanda aber auch eine gerissene Betrügerin oder aber eine entlaufene Sklavin. Und solchen Leuten konnten sie hier schon gar keine Zuflucht gewähren.
Sie hatten es schon schwer genug, auch ohne dass sie Frauen oder Mädchen aufnahmen, die sich und andere nur in Schwierigkeiten brachten. Das Kloster war abhängig von der finanziellen Unterstützung mildtätiger Damen, und das waren zumeist Senhoras von den umliegenden Fazendas. Es kam häufiger vor, dass Bedürftige, zum Beispiel entflohene Sklaven, hier bei ihnen Zuflucht suchten, aber in diesen Fällen musste die Äbtissin ihre persönlichen Gefühle, wie so oft, hintanstellen und im Interesse der Ordensgemeinschaft handeln. Brachte man die Ausreißer wieder zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurück, so konnte man mit einer stattlichen Belohnung und der künftigen Großzügigkeit der weißen Oberschicht rechnen.
Sie war sich aber gar nicht sicher, ob dieses Mädchen hier, das ganz sicher nicht Maria Fernanda hieß, eine Sklavin war. Die junge Frau ließ unter einer dünnen Schicht von Unterwürfigkeit ein gesundes Selbstbewusstsein erkennen, über das die meisten Sklaven nicht verfügten. Sie wirkte auch recht gebildet, ihre Grammatik war fehlerfrei, der Satzbau trotz der etwas wirren Rede korrekt. Sicher hatte sie ein wenig Bildung genossen – und das wiederum war, wenn überhaupt, fast ausschließlich bei Mädchen der Fall, die aus freien Handwerkerfamilien stammten. Stimmte die Geschichte also doch?
»Kannst du lesen und schreiben?«, fragte die Äbtissin schließlich.
Lua war verwirrt. Was sollte das? Gab es nichts Wichtigeres für die Nonne? Und was sollte sie um Gottes willen antworten? Dass sie es konnte? War es auch unter Freien verboten, es zu können? Lua wusste es nicht. Sie beschloss, das Risiko einzugehen.
»Ein wenig, ja.«
»Sehr schön. Dann lies mir dies hier doch bitte einmal vor.« Sie reichte Lua einen Schrieb. »Du kannst beim zweiten Absatz beginnen, das davor ist nicht so wichtig.«
Lua las. Die Handschrift kam ihr bekannt vor. Sie überflog den Anfang, bei dem es sich um hochgestochene, bürokratische Einleitungsfloskeln handelte. Dann kam sie zum zweiten Absatz – und ihr blieb fast die Luft weg.
Die Frau ist 18 Jahre alt, von mittlerer Statur und hellbrauner Hautfarbe. Sie hört auf den Namen »Lua«. Ihre Manieren sind geschliffen, ihr Auftreten höflich und selbstbewusst. Sie trug bei ihrer Flucht ein blaues Kattunkleid mit weißer Schürze, dazu eine weiße Haube, außerdem silberne Ohrringe sowie mehrere Ketten aus bunten Glasperlen. Zur Ergreifung der Negerin ist eine Belohnung in Höhe von 10 Milreis ausgesetzt.
Stotternd las sie der Nonne den Text vor. Als sie damit fertig war, wagte sie es nicht, von dem Papier aufzusehen. Mit hängenden Schultern stand sie vor der Äbtissin, die personifizierte Schuld. Wie hatte dieser Schrieb so schnell hierhergelangen können?
»Er kam schon gestern Abend hier an«, sagte die Ordensschwester, als habe sie Luas Gedanken lesen können. »Die Familie Oliveira dürfte etwa zwanzig solcher handgeschriebenen Suchmeldungen per Eilboten in der Gegend verteilt haben. Wir gehören immer zu den ersten Orten, an denen entflohene Sklaven gesucht werden.«
Lua schwieg.
»Ich fürchte, wir müssen dich zu deinen Leuten zurückbringen.«
»Nein, bitte nicht! Man will mich auf São Fidélio mit einem Kerl verheiraten, den ich nicht ausstehen kann, und ich habe keine Ahnung, warum man mich so quält. Ich habe den Oliveiras mein Leben
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