Das Lied des roten Todes
»Ich kann nicht einfach daneben stehen und nichts tun.«
Elliott sieht Will mit einem ein bisschen hämischen Grinsen an. »Woher wissen wir, dass du uns nicht an deine infizierten Freunde auslieferst?«, fragt er.
»Ich werde deine Befehle befolgen«, sagt Will ruhig. »Du weißt nicht, was dich dort erwartet. Es könnte schlimmer sein als alles, was irgendwer von uns sich vorgestellt hat. Nehmt mich mit. Ich schwöre deiner Sache die Treue. Was auch immer es mich kostet.«
Seine Worte sind demütig, aber sein Ton und seine Haltung sind es nicht.
Ich öffne den Mund, um einzuschreiten, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wünsche mir so sehr, dass April mit uns gehen könnte. Ich sehe sie an. Sie lacht in sich hinein, aber sie versteht meine stumme Bitte und beißt sich auf die Lippe.
»Nehmt ihn mit«, sagt sie. »Kent und ich werden uns um die Kinder kümmern. Ihr braucht Hilfe, und ich habe gehört, dass Will sehr fähig ist.«
Elliott wirft sich die Tasche über die Schulter. »Also gut«, faucht er und verlässt den Raum.
Ich bin überrascht, dass er einverstanden ist, aber ich bin auch erleichtert. Die Stadt ist gefährlich. Wir brauchen Will.
Will streicht Henry die Haare zurück und zieht dem schlafenden Kind die Decke bis ans Kinn.
»Ich kümmere mich um Henry.« Elise setzt ein tapferes Gesicht auf, aber ich kann erkennen, dass sie kurz davor steht zu weinen. Sie klammert sich an mich. Ich wünschte, mir würde etwas einfallen, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie mir wichtig ist, auch wenn Will und ich nicht besonders gut miteinander klarkommen.
April und Elise folgen uns hinaus aufs Deck. Elise schlingt ihre dünnen Ärmchen um Wills Hals, hält ihn so fest, dass ich schon denke, sie wird ihn nie wieder loslassen. Er zieht ihre Hände von seinem Mantel weg, aber sie drückt ihre Wange an ihn.
»Ich muss mit Araby gehen«, sagt Will zu ihr. »Sie braucht meine Hilfe.« Aber seine Schwester klammert sich trotzdem an ihn.
Bis ihm Kent zu Hilfe kommt. »Elise, hilfst du mir dabei, das Schiff zu steuern?« Elise beißt die Zähne zusammen und lässt schließlich los.
April nimmt meinen Arm. Der Wind weht ihre blonden Haare zurück, und als sie den Kopf herumwirft, könnte man fast vergessen, dass sie krank ist. Abgesehen von den Wunden, den nässenden, tödlichen Wunden. Bevor Elliott mich in Prosperos Schloss mitgenommen hat, hat er mich gefragt, ob ich meine Sicherheit riskieren würde, um sie zu retten. Meine Antwort hat sich nicht geändert; ich werde alles tun, was nötig ist, um ihr Überleben zu sichern. Sie wird nicht sterben – im Gegensatz zu Finn. Später werden wir darüber lachen, wie viel Angst wir hatten, über die Wochen, als sie die Seuche hatte, und wie sie sie besiegt hat.
Sie umarmt mich kurz. »Pass auf Elliott auf«, sagt sie. Und weil sie April ist und offenbar nicht anders kann, fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu: »Und auf Will.«
»Die Leiter ist unten«, sagt Kent. Er hat eine Hand auf Elises Schulter liegen und die andere auf dem hölzernen Steuerruder, das sie festhält.
»Pass auf die beiden auf«, sage ich zu ihm. »Und du auch, April.«
Elliott klettert bereits die Strickleiter hinunter, balanciert dabei vorsichtig seine Tasche und eine Muskete. Sein Schwert und sein Gehstock – in dem sich ein zweites Schwert verbirgt – hängen über seinem Rücken. Ich werfe mir meine Tasche über die gesunde Schulter.
»Tut mir leid, dass ich das Schiff nicht ganz runterbringen konnte. Wir sind zu dicht an der Stadt«, sagt Kent zu Will, dessen Gesicht kalkweiß ist. Er hat Höhenangst. Als er mich in den Heißluftballon mitgenommen hat, konnte er kaum die Augen öffnen.
Ich zögere, frage mich, ob ich ihn zuerst gehen lassen soll, aber er bedeutet mir hinunterzusteigen.
Kent hält das Schiff knapp über den Bäumen, und der Wind peitscht die Leiter von einer Seite zur anderen. Ich kann nichts anderes tun als mich festhalten, aber als ich die Hälfte hinter mich gebracht habe, begreife ich, dass ich es genieße, wie der Wind durch meine Haare fährt. Die Luft ist kühl und riecht nach Kiefernnadeln.
Ich taste nach der nächsten Sprosse und dann nach der darunter. Als ich nahe genug bin, packt Elliott mich und schwingt mich nach unten.
»Wir werden hier lagern«, sagt er, »und die Stadt morgen früh betreten.«
Die Stadt betreten. Das ist es, wofür ich gekämpft habe, aber die Aussicht sorgt immer noch dafür, dass ich innerlich in Angst
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