Das Lied des roten Todes
erfriere. Ich stehe neben Elliott und versuche, Will beim Herunterklettern zuzusehen, ohne dass Elliott etwas davon mitbekommt. Elise ist erstarrt, als sie bei unserer Flucht aus der Stadt zu dem Luftschiff hochgeklettert ist. Ihr Entsetzen hat dann also damals Wills Angst überlagert.
Das Schiff dreht sich leicht nach rechts, und Will fällt aus gefährlicher Höhe, landet aber auf seinen Füßen. Er lacht leicht, aber sein Draufgängertum kann nicht verbergen, wie blass er ist.
Wir drei sammeln rasch Feuerholz, und Elliott hält sich in meiner Nähe auf, als würde er mich beschützen. Vor dem, was im Dunkeln lauern könnte, oder vor Will?
Elliott trägt sein Schwert und eine Muskete. Das Schwert sieht ganz und gar natürlich an ihm aus, aber das Gewehr wirkt unhandlich.
Will setzt ein Feuer in Gang, und Elliott kocht Wasser ab; er will irgendeinen bitteren Tee zubereiten. »Ich traue dem Wasser hier draußen nicht«, erklärt er. »Natürlich traue ich dem Wasser in der Stadt auch nicht.« Ich denke an die aufgeblähten Toten, die vielleicht flussaufwärts liegen.
Elliott hat den Befehl übernommen, was bedeutet, dass Will und ich nichts zu tun haben, aber irgendwie ist es tröstlich, dass er sein altes, aufreizend selbstsicheres Ich gefunden hat. Es hilft mir zu glauben, dass er in der Lage ist, auch in der Stadt die Kontrolle zu übernehmen.
Der Wald ist so anders als der Sumpf. Zum einen ist der Boden unter uns beruhigend fest. Das Knistern des Feuers kann das Geräusch des Flusses oder des Windes, der flüsternd durch die Blätter streicht, nicht übertönen. Der Geruch von Kiefernnadeln ist streng, aber frisch.
Im Sumpf war es feucht, aber jetzt, da die Sonne untergeht, wird es kühl. Es sieht so aus, als würde es heute Nacht für diese Jahreszeit unzeitgemäß kalt werden, und ich fange an zu zittern und habe das Gefühl, nicht aufhören zu können.
Elliott stellt einen Becher Tee neben Wills Füße, dann setzt er sich hin und nimmt mich in die Arme. Ich sollte mich wegbewegen, aber er ist so warm. Also gebe ich nach und sinke an seine Brust. Seine Beine strecken sich beiderseits von mir aus, und nachdem ich eine Decke von unseren Sachen genommen habe, höre ich auf zu zittern. Als er auch nach ein paar Momenten nichts Ungehöriges tut, entspanne ich mich so sehr, wie es mir nachts in der Wildnis möglich ist.
Unser Feuer wirft nur einen kleinen Lichtschein, und der Mond über uns kann die Schatten außerhalb davon nicht durchdringen. Ich habe noch nie draußen geschlafen. Es ist beängstigender, als allein mit Finn im Keller zu schlafen. Elliott spürt meine Unruhe und zieht mich dichter zu sich.
»Wir müssen während der Nacht Wache halten«, sagt er zu Will. »Ich übernehme die erste.« Er wirft Will eine Decke zu.
Als ich meinen Kopf leicht drehe, um der Bewegung der Decke nachzublicken, streifen Elliotts Lippen kurz über meine Wange. So viel zur Schicklichkeit.
»Weck mich, wenn ich an der Reihe bin.« Will wickelt sich in seine Decke und legt sich mit dem Rücken zu uns hin.
Elliott und ich sitzen eine ziemlich lang wirkende Zeit schweigend da.
Schließlich sagt er: »Du solltest ein wenig schlafen.« Seine Stimme ist vertraulich und leise, aber es ist kein Flüstern. Ein Flüstern hätte seiner Stimme das Timbre geraubt, dessen Klang mich jetzt, hier in der Dunkelheit und mit dem Rücken an ihn gelehnt, wider Willen erregt.
»Dank deiner Drogen habe ich mich schon sehr viel ausgeruht«, sage ich schärfer als beabsichtigt. Ich zittere wieder, auch wenn ich nicht mehr friere.
»Du hast Angst«, sagt er. »Davor, in die Stadt zurückzukehren? Genau das hast du gewollt.«
Nur weil man weiß, dass etwas richtig ist, heißt das noch lange nicht, dass es einen nicht erschreckt. Aber ich sage nichts. Nach einer Weile nicke ich. Obwohl es dunkel ist, kann er die Bewegung sicher spüren.
»Ist es dein Vater?«, fragt er, aber ich bin zu diesem Gespräch nicht bereit.
»Können wir aufhören zu reden?« Meine Stimme ist ebenfalls leise und klingt irgendwie sehr viel vertraulicher, als ich es vorgehabt hatte.
»Ich beklage mich nicht«, sagt er. »Es ist nett, hier draußen mit dir zu sitzen. Sehr viel wärmer.«
Ich verändere meine Lage ein wenig, um herauszufinden, ob er so aufrichtig aussieht, wie er klingt, und unsere Gesichter kommen einander sehr nah. Ich sollte mich abwenden, aber ich tue es nicht.
Mein Widerstand bricht, und ich küsse ihn.
Irgendwo in den Bäumen über uns
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