Das Lied des roten Todes
gehen.
Draußen scheint die Sonne. Morgens ist es in der Stadt häufig neblig, aber heute ist der Himmel klar.
Es kommt mir seltsam vor, wie ich mit Elliott allein, ohne Will an der anderen Seite, dahingehe.
»Was für Aufträge hast du ihm gegeben?«, frage ich.
Er zieht die Brauen hoch. »Er hat einigen meiner Männer Nachrichten überbracht.«
»Heute Morgen? Oder gestern Nacht? Es ist gefährlich, nachts unterwegs zu sein.«
»Er wusste, dass es gefährlich sein würde, mit uns mitzukommen.«
»Versuch nicht, ihn in den Tod zu schicken«, sage ich. Elliott macht eine Schau daraus, die Straße vor uns zu mustern; seine Hand ruht am Schwertgriff.
»Ich habe nicht versucht, ihn in den Tod zu schicken«, sagt er schließlich. »Seine Ideale sind fehlgeleitet, aber ich wünsche ihm nicht, dass er stirbt.«
»Was ist nötig, damit du ihm trauen kannst?«, frage ich. Denn wir müssen einander irgendwie vertrauen.
»Was ist nötig, damit du ihm trauen kannst?«, entgegnet er.
Ich würde vergessen müssen, wie er mich verraten hat.
»Zumindest werden in ein paar Nächten die Kinder in der Stadt sein. Wenn er sich irgendwie danebenbenimmt – nun, wir kennen seine Schwäche.«
»Ich würde Henry oder Elise niemals bedrohen.«
»Dann kenne ich auch deine Schwäche.« Ich warte darauf, dass er mir bedeutet, dass er das nicht ernst meint, aber seine Aufmerksamkeit gilt wieder der Stadt um uns herum.
Von der nächsten Straße steigt Rauch auf. Zuerst denke ich, dass ein weiteres Gebäude brennt, aber der Rauch scheint stattdessen von einer Reihe von Lagerfeuern zu stammen.
Ein Dorf aus trostlosen Zelten aus Sackleinen ist dort entstanden, wo früher einmal ein Park gewesen sein muss, und inzwischen schwappt es über die Grenzen des Parks hinaus und bedeckt die zertrümmerten Fundamente eines Lagerhauses. Wäscheleinen sind zwischen einigen Zelten gespannt, und ein bisschen Gemüse wächst kühn in Töpfen. Ein Hund bellt uns vom Innern seines Territoriums an.
»Finden die keine Gebäude, in denen sie leben können?«, frage ich. Es hat immer genug leere Gebäude in der Stadt gegeben, sodass die meisten Menschen zumindest teilweise Obdach finden konnten.
»Vielleicht glauben sie, dass die Gebäude irgendwie verseucht sind«, sagt Elliott, und ich erinnere mich daran, wie die Leichensammler die schwarzen Sensen auf Türen gemalt haben. Was geschieht, wenn alle Türen markiert sind? Vielleicht werden die Leute dann die Stadt einfach verlassen und flüstern, dass sie heimgesucht wird, und in Zelten weiterleben.
»Zumindest versuchen sie es«, spricht Elliott weiter, »statt einfach nur mit den Toten in ihren zerstörten Gebäuden zu hocken. Mit Menschen, die entschlossen sind, ihr Leben zu verbessern, kann ich etwas anfangen.«
Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber plötzlich halte ich Elliotts Hand. Es ist nicht so, dass ich mich daran klammere oder ihm gestatte, dass er mich mit sich zieht – meine Hand hat einfach den Weg in seine gefunden.
Wir kommen an der verbrannten Hülle eines Appartementhauses vorbei. Ein Blatt Papier ist an die verkohlten Überreste einer Tür genagelt worden. Ich bleibe stehen und greife mit meiner freien Hand danach. Die Tinte ist rot und zieht eine blutige Spur über das Pergament.
NIEDER MIT DER WISSENSCHAFT. TÖTET DEN WISSENSCHAFTLER .
Ich lasse das Blatt fallen. An meiner Fingerspitze sind rote Flecken. Ich wische sie am Ärmel meines Kleides ab, wo ein Fleck weniger auffällt, aber die Tinte hat sich bereits in meine Haut gefressen.
»Sie wollen meinen Vater töten.«
»Kannst du es ihnen verübeln?«
Ich antworte nicht.
»Ich finde das Ganze ironisch … als ich deinen Vater um Informationen über die Masken gebeten habe, hat er meine Hilfe verschmäht. Deine Mutter hat ihm vielleicht von Dingen berichtet, die ich als Junge getan habe, und er hat mich vorverurteilt, aber gleichzeitig war er nie der Held, der zu sein er vorgegeben hat. War er das?«
»Für mich war er es«, sage ich leise. »Und ich werde nicht aufhören, das zu denken, solange er mir nicht in die Augen blickt und mir erzählt, dass es damals, als er das Virus geschaffen hat« – es ist das erste Mal, dass ich laut zugebe, dass ich weiß, dass er es getan hat –, »kein Unfall war, dass er nicht gezwungen war, zu –«
»Wieso spielt das eine Rolle? Egal wie es war – es sind Tausende von Menschen gestorben.«
»Ich muss es einfach wissen«, sage ich. »Würdest du das nicht wollen,
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