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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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habe.»
    Er kniete neben ihr nieder, nahm ein Messer und drückte es auf die Tunika über ihrer linken Brust. Die Klinge hob und senkte sich. Ihr Herz schlug schnell.
    Er grinste.
    «Ganz langsam würde ich dich töten, dir die Haut vom Körper schälen. Das könnte ich tun, hier und jetzt. Es würde meinen Schmerz für einen Augenblick lindern, wenn ich sehe, wie du leidest.»
    Ihre aufgerissenen Augen glänzten. Auf ihren Pupillen tanzten kleine Flammen.
    «Du weinst», sagte er, «und du hast Angst.»
    Das Messer glitt von der Brust hinauf zum Ausschnitt, in dem sich ihre Schlüsselbeine abzeichneten. Er drückte zu, aber nur so stark, dass die zarte Haut ein wenig geritzt wurde. Ein Blutstropfen quoll hervor.
    Sie gab keinen Laut von sich.
    «Hast du Angst?», fragte er.
    Sie reagierte nicht.
    «Hast du Angst?», wiederholte er seine Frage, dieses Mal etwas schärfer.
    Sie nickte.
    «Ich kann dich nicht hören.»
    «Ja», hauchte sie.
    Das Messer wanderte zur Kehle. Für den Moment genoss er die Todesangst in ihrem Blick. Dann erhob er sich, stellte sich mit gespreizten Beinen über sie und zog sein Hemd hoch bis über die Brust.
    Sie keuchte leise, als ihr Blick auf Thankmars entblößten Oberkörper fiel. Er war mit Narben und verschorften Wunden übersät.
    «Ich habe sie nicht gezählt», sagte er. «Es sind Hunderte. Hunderte Wunden, um die Qualen meiner Seele zu lindern. Die Qualen des Fluchs.»
    Er führte das Messer über seinen Bauch. Die Klinge kreuzte Narben und Wunden, die wieder aufplatzten und deren Blut sich mit dem Blut aus dem frischen Schnitt vermischte.
    «Ich spüre es, aber es schmerzt mich nicht mehr», sagte er. «Weißt du, warum ich dich noch nicht getötet habe?»
    Sie schwieg.
    Das Blut rann über seinen flachen Bauch und versickerte im Bund seiner Hose.
    «Nein, natürlich weißt du es nicht. Woher auch? Ich werde es dir erklären.»
    Seine Miene gefror zu Eis. Er entfernte sich von ihr, ging zu einem Tisch, auf dem ein kleines Fass stand, aus dem er einen Becher mit Wein füllte. Ihr Blick folgte ihm. Er nahm einen kleinen Schluck und richtete seinen Blick auf einen Punkt über ihrem Kopf.
    «Morgen töte ich den König», sagte er leise, «und dann trete ich an seine Stelle. Ich werde König, und dafür brauche ich dich.»
    Er schaute sie an und sah die Verwirrung in ihren Augen.
    Mit dem Becher in der Hand kam er zu ihr zurück und kniete neben ihr nieder. Langsam führte er den Becher über ihren Kopf und kippte ihn.
    Sie schloss die Augen, als sich der Wein über ihrem Gesicht verteilte, ihren Hals hinunterrann und den Blutstropfen wegschwemmte.
    Ihre Lippen bebten. Er konnte sehen, wie es in ihr arbeitete, wie sie gegen ihre Angst ankämpfte.
    Tapferes Mädchen, dachte er, nahm ein Stück Leinen und wischte ihr den Wein vom Gesicht.
    «Schau es an!»
    Sie öffnete die Augen wieder, und ihr Blick fiel auf etwas, das er vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand über sie hielt.
    «Ist er nicht schön?», fragte er und bewegte den getrockneten Schmetterling auf und ab, als wolle er ihn fliegen lassen.
    Sie schwieg.
    Er schlug ihr mit der rechten Hand ins Gesicht. «Mach deinen Mund auf, wenn ich dich etwas frage!»
    «Ja», flüsterte sie.
    «Ja – was?»
    «Er ist schön.»
    Er nickte und legte den Schmetterling in seine rechte Hand.
    «Schönheit ist vergänglich», sagte er.
    Seine Hand schloss sich um den Schmetterling zur Faust, und als er sie wieder öffnete, waren die zarten Flügel zerbrochen.
    «Alles ist vergänglich!»
    Er drehte die Hand, und die Überreste des Schmetterlings fielen auf seine Gefangene herab.
    «Nur Gott währt ewig. Und der Ruhm eines Mannes, dessen Taten ihn unsterblich werden lassen.»
    Ja, dachte er, meine Taten sind mein Ruhm.
    Er rief sich die Worte der Seherin ins Gedächtnis, die sie ihm in der Eresburg eingeflüstert hatte. Es hatte gedauert, bis er ihren Sinn verstanden hatte, bis er begriffen hatte, was die Seherin ihm hatte sagen wollen. Erst als das Schicksal ihre Tochter in seine Hände gespült hatte, hatte er den Sinn verstanden.
    Er deutete mit dem Kopf zu dem Lager, auf dem er die Nächte verbrachte.
    «Wenn der Thron mir gehört, wirst du meine Braut. Ich werde mich mit dir vereinen, nur ein einziges Mal. Dann bist
du
für immer und ewig mein! Dann bist du mein Weib. Ich bin du – du bist mein, und dann werde ich dich töten und die Macht der Seherin brechen.»

64.
    Vemund hatte Durst, aber nicht auf Wasser;

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