Das Lied des Todes
beherrschte zwar die Sprache der Normannen, war aber offenbar keine Nordländerin.
Er war mit ihr vor der aufgebrachten Menge aus dem Gasthaus geflohen. Sie hatten die Verfolger abgeschüttelt und waren schließlich in das Waldstück gekommen, das Hakon für seinen Beobachtungsposten ausgewählt hatte. Hier hatte er vor drei Tagen sein Lager am Waldrand unterhalb einer mächtigen Eiche eingerichtet. Er gönnte sich nur kurze Schlafpausen. Bei Helligkeit beobachtete er meist die Burg von einem Ast der Eiche aus, nachts schlich er sich über das freie Feld an und lauerte nahe der Tür hinter den Büschen.
Den Winter hatte er mit den Überlebenden von Hladir in der Höhle verbracht. Als im Tal die Schneeschmelze einsetzte, waren sie hinunter in die zerstörte Stadt gezogen. Sie hatten die Toten geborgen und ihre Überreste zusammen mit den Männern, Frauen und Kindern, die den Winter nicht überlebt hatten, den Göttern übergeben. Die Feuer brannten zwei Tage lang, und die Rauchsäulen stiegen wie schwarze Türme in den Himmel auf. Hakons Vater Sigurd bestatteten sie auf einem Hügel beim Jarlshof unter dem Schiff, auf dem er viele Jahre gefahren war. Viele Dinge, die sie ihm für seine letzte Reise mitgeben konnten, gab es jedoch nicht. Den Schmuck und die Waffen hatte der Graf mitgenommen. Dann machten sie sich an den Wiederaufbau der Stadt und sandten Boten in andere Gegenden von Nordmoer, die mit Männern und Bauholz zurückkehrten.
Die Menschen von Hladir hofften, dass Hakon als ihr neuer Jarl die Führung übernehmen würde. Sie baten Bergljot, ihrem Sohn diesen Wunsch anzutragen, und als er eines Abends allein am Ufer des Fjords stand, kam sie zu ihm und sagte: «Ich weiß, was du vorhast, Hakon. Aber wir brauchen dich hier. Du bist Sigurds Sohn. Nimm sein Erbe an. Die Menschen vertrauen dir, trotz allem.» Hakon schaute sie lange an, dann sprach er die Worte aus, die ihm schon lange im Kopf herumgingen. «Ich kann niemandem eine Hilfe sein, solange ich im Innern zerrissen bin», sagte er. Bergljot seufzte traurig. Sie strich ihrem Sohn über die Wange, dann nickte sie mit Tränen in den Augen.
Sobald die Fjorde wieder eisfrei waren, nahm Hakon seine Waffen und ging an Bord des ersten Schiffs, das nach Süden fuhr. Nur der Rabe begleitete ihn. Pálnir und die Männer vom Wellenspalter hatten beim Aufbau der Stadt geholfen. Doch nun begannen sie, ein neues Schiff zu bauen, um damit auf Raubzug zu gehen. Pálnir wollte im nächsten Herbst nicht mit leeren Händen auf die Burg seines Vaters zurückkehren.
Bald darauf kam Hakon zum zweiten Mal nach Haithabu und dann zur Markgrafenburg. Doch die Ratte hatte ihr Loch verlassen. Hakon musste den Spuren viele Meilen bis zur Stadt Colonia folgen, wo er den Grafen endlich entdeckte. Aber er wurde ständig von Blutmänteln bewacht, sodass Hakon seinen Plan, ihn noch im Heerlager zu töten, aufgeben musste.
Als er erfuhr, dass das Heer zur Krönung eines Königs ziehen würde und wo diese stattfinden wollte, hatte er beschlossen, bei dieser Burg, die sie Aquisgranum nannten, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten.
Und dabei sollte ihm die kleine Frau helfen.
Über ihm, auf einem Ast der Eiche, stieß der Rabe ein anhaltendes Krächzen aus.
Die Frau schlug die Augen auf. Sie zog ihre Hand unter dem Fell hervor und berührte Hakons Gesicht.
«Danke», sagte sie leise.
Er legte ihre Hand auf das Fell, setzte sich auf und lehnte seinen Rücken gegen den Eichenstamm.
Die Frau stützte sich auf einen Ellenbogen und schaute ihn lächelnd an.
«Ich kann mich an keine Gelegenheit erinnern», sagte sie, «bei der ich mit einem Mann das Lager geteilt habe, ohne dass er mich genommen hat. Es sei denn, er war zu betrunken.»
«Mhm.»
«Findest du mich hässlich?»
«Nein.»
«Warum hast du es dann nicht mit mir getan?»
Hakon schaute sie an, als habe sie ihn gefragt, ob sie ihm einen Finger brechen dürfe.
«Weil es andere Dinge zu erledigen gibt», antwortete er.
«Du bist ein seltsamer Mann. Noch nie hat jemand mir geholfen, ohne etwas dafür zu verlangen.»
Er schaute an ihr vorbei und überlegte, wie er ihr erklären sollte, was er von ihr erwartete.
«Nicht einmal mein Vater», sagte sie.
Hakon nahm einen Kanten Brot aus seinem Beutel, teilte ihn und gab Malina eine Hälfte. Sie verschlang das Brot mit wenigen Bissen.
Er ahnte, was nun kommen würde. Es gab im Moment nichts, was ihn weniger interessierte als die Lebensgeschichte dieser Frau. Aus
Weitere Kostenlose Bücher