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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Erfahrung mit Thora wusste Hakon aber, dass man Frauen reden lassen musste, wenn man etwas von ihnen wollte. Sie mochten das. Also tat er so, als würde er aufmerksam zuhören, während sie von ihrer Heimat berichtete, irgendeine kleine Siedlung im Osten, in der ein Slawenstamm lebte, den man Varnower nannte.
    «Weißt du, warum mein Vater mich Malina genannt hat?»
    Er schüttelte den Kopf. Woher sollte er das wissen?
    «Weil er mein Lächeln so süß fand. Malina heißt in unserer Sprache Himbeere.»
    Sie seufzte. «Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, mich zu verkaufen, als ich elf Jahre alt war. Wir waren sieben Geschwister, zu viele Kinder, um sie nach einer schlechten Ernte über den Winter zu bringen. Wir lebten in einer kleinen Hütte, in einer Siedlung am Ufer eines Sees mit einer Insel, auf der eine Burg steht. Eine richtige Burg! Zwar keine aus Stein, wie es sie hier manchmal gibt. Aber eine Burg mit hohen Mauern aus Holz und Erde. Sie haben einen halben Berg abgetragen und die Erde zu der Insel gebracht …»
    Hakon unterdrückte ein Gähnen. Er fragte sich, wie viele Worte noch aus dieser kleinen Frau hervorsprudeln würden. Dennoch musste er sich eingestehen, dass ihm ihre Erzählung nicht unangenehm war. Er hatte lange Zeit mit kaum einem Menschen ein Wort gewechselt, und er mochte ihre leise, helle Stimme.
    Er biss vom Brot ab.
    «Zu der Insel führte ein Steg», sagte sie, «der war so breit, dass sogar zwei Ochsenkarren nebeneinander darüberfahren konnten. Ich war gern auf dem Steg und habe auf dem Wasser mein Spiegelbild angeschaut und mich betrachtet, wie ich aussehe, wenn ich böse gucke oder traurig oder fröhlich. Fröhlich mag ich mich am liebsten. Magst du mein Lächeln?»
    Als Hakon nickte, öffnete sie ihre Lippen so weit, dass ihre Zähne zu sehen waren.
    «Tanzt du gern?», fragte sie.
    Hakon verschluckte sich am Brot. «Tanzen?»
    «Ja!», rief sie und kroch unter dem Fell hervor. «Es hilft, die steifen Arme und Beine nach einer kalten Nacht aufzuwecken.»
    Sie begann, zwischen den Bäumen hin- und herzuspringen. Dann pflückte sie vom Boden Blumen mit weißen Blüten ab, die hier massenweise wuchsen. Sie warf die Blumen in die Luft und tanzte unter den herabrieselnden Blüten hindurch.
    Hakon schaute nach oben in den Baum. Der Rabe sprang unruhig auf dem Ast hin und her.
    Nach einer Weile kehrte sie zu Hakon zurück, der noch immer mit dem Fell über den Knien am Baum lehnte, und legte sich neben ihn.
    «Und ich weiß gar nichts von dir», sagte sie zwischen zwei schnellen Atemzügen.
    Hakon schob sich das letzte Stück Brot in den Mund. «Das ist besser so», sagte er kauend.
    «Dann willst du mir wohl auch nicht erzählen, warum du dem Soldaten den Krug über den Kopf gezogen hast, oder?»
    Sie warf einen skeptischen Blick zum Raben hinauf. «Und warum dieser Vogel den Mönch angegriffen hat.»
    «Ich möchte, dass du etwas für mich tust.»
    «Also doch.»
    «Hm?»
    «Na, du erwartest also doch etwas von mir.»
    «Ja.»
    Sie kicherte leise. «Bei was für einer Sache könnte eine so schwache Frau wie ich wohl einem so starken Krieger helfen?»
    Hakon drehte ihr sein Gesicht zu und sah ihr fest in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick.
    «Ich muss in die Burg», sagte er.
    «Das ist keine Burg. Sie nennen diese Anlage Pfalanza. Ihr König hält sich dort manchmal mit seinem Gefolge auf …»
    «Dann in die Pfalanza. Du kennst dich da drinnen aus.»
    Sie nickte verstehend. «Du hast mich beobachtet. Es war also kein Zufall, dass der Vogel gestern Nacht da war. Warum hast du dir keine andere Frau ausgesucht? Ich bin nicht die Einzige, die …»
    «Ich habe das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann!», unterbrach er sie. «Und mein Gefühl täuscht mich selten.»
    Sie schaute ihn mit einem Ausdruck an, der eine Mischung aus Freude und Überraschung war. «Das hat noch niemals ein Mann zu mir gesagt. Du bist wirklich seltsam. Warum verrätst du mir nicht deinen Namen?»
    «Weil er nicht wichtig für dich ist.»
    Sie warf einen Blick auf seine silbernen Armringe. «Dann nenne ich dich einfach … Krieger.»
    Er zuckte mit den Schultern.
    «Wann soll ich dich in die Pfalanza bringen, Krieger?»
    «Wenn es wieder dunkel ist.»
    «Es sind viele Soldaten in der Pfalanza, sehr viele. Sie wollen einen neuen König krönen.»
    «Ich weiß.»
    «Es ist gefährlich.»
    «Ja.»
    «Das ist wirklich schade. Da begegne ich endlich einem Mann, der gut zu mir ist. Doch er hat nichts Besseres zu

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