Das Lied des Todes
und waren bald darauf nicht mehr zu hören.
Die Wolkendecke riss auf. Hakon sah Malina im Mondschein am Fuß der Mauer stehen. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute zu ihm hoch.
«Willst du da oben übernachten?», fragte sie.
Hakon legte einen Finger an die Lippen. Sie nickte. Er warf das Seil zu ihr hinunter. Dann ließ er sich an der Mauer herab, indem er sich am oberen Rand festhielt, ganz lang machte und dann absprang. Um den Aufprall abzufedern, beugte er die Knie. Doch der Stoß war zu heftig. Er geriet aus dem Gleichgewicht und ging zu Boden.
Malina kniete neben ihm nieder. «Das war jetzt aber nicht nötig, Krieger, dass du dich aus Dankbarkeit vor meine Füße wirfst.»
Sie zeigte auf einen Schuppen. «Da drin können wir uns bis morgen früh verstecken.»
Hakon rappelte sich auf, holte ihre Sachen unter seinem Hemd hervor und reichte sie ihr. Sie nahm die Kleider, machte aber keine Anstalten, sie anzuziehen. Stattdessen schob sie sich so dicht an ihn heran, dass ihre Brüste ihn berührten.
«Im Schuppen bewahren sie Gartengeräte auf», sagte sie leise. «Aber es gibt auch mit Heu gefüllte Säcke, aus denen wir uns ein Nachtlager machen können. Wir haben viel Zeit …»
«Zieh dich an. Du zitterst.»
Sie lächelte vielsagend. «Aber nicht nur vor Kälte, mein Krieger.»
«Mach schon!»
Seufzend wandte sie sich ab und schlüpfte in ihre Kleider.
«Besser so?», fragte sie tonlos, als sie angezogen war.
«Hakon», sagte er.
«Hm?»
«Ich heiße Hakon.»
Ihr Gesicht hellte sich auf. «Hakon! Das klingt irgendwie … stolz.»
«Ich werde dir etwas erzählen.»
«Eine Geschichte?»
«Meine Geschichte, damit du verstehst, warum ich das tue, was ich tun muss.»
Sie ergriff seine Hand, und obwohl er sie zunächst abschütteln wollte, ließ er sie dann doch gewähren und sich von ihr zum Bretterverschlag führen. Sie schlossen die Tür hinter sich.
Ein Schatten landete auf dem Dach des Schuppens. Der Rabe wachte über die beiden, und für den Rest der Nacht gab er keinen Laut mehr von sich.
67.
Am Pfingstsonntag des Jahres 961 warteten vor dem Atrium, einem der Pfalzkirche vorgelagerten Säulenbau, bereits in aller Frühe viele Menschen auf Einlass. Aki und Ketil stellten sich ganz hinten an. Schlurfend bewegte sich die Menge auf den Eingang zu, vor dem sie sich immer dichter drängte und schließlich fast zum Stehen kam. Ketil schaute über die Menge hinweg zum Tor, vor dem Soldaten alle Besucher durchsuchten. Waffen durften in der Pfalanza nur von den Männern des Königs getragen werden.
«Das kann dauern», knurrte Ketil.
«Siehst du ihn?», fragte Aki leise.
Ketil schüttelte den Kopf.
«Oder einen der Männer, von denen ich dir erzählt habe, einen in einem hellblauen Mantel oder einen sehr dicken Mann?»
«Was denkst du denn? Hier sind Hunderte Männer. Einige haben blaue Mäntel, und Dicke gibt es auch. Woher soll ich wissen, wie diese Kerle aussehen?»
«Wärst du mitgekommen, dann wüsstest du es.»
Ketil zog die Augenbrauen zusammen. «Dein Ausflug war zu nichts gut, außer dass du dich in große Gefahr gebracht hast.»
Der Isländer hatte recht. Aki wusste noch immer nicht, wie es Asny ging. Was geschehen wäre, wenn er den Blutmantel nicht rechtzeitig gehört hätte, wagte er sich gar nicht vorzustellen.
«Deiner Schwester ist nicht geholfen, wenn du dich töten lässt», sprach Ketil es aus.
Aki verdrehte die Augen. «Ich habe doch schon gesagt, dass wir es so machen werden, wie du vorgeschlagen hast.»
Ketil schaute ihn mitfühlend an. «Du wirst sehen, mein Freund, heute Abend hast du deine Schwester wieder.»
Aki hätte diesen Optimismus gern geteilt. Aber es fiel ihm schwer zu glauben, dass alles wirklich so einfach sein sollte, wie Ketil behauptete.
«He, he!», rief ein Mann vor ihnen. «Nicht so drängeln …»
Als er sich umdrehte und zu Ketil aufschaute, wich die Wut in seinem Gesicht einem überraschten Ausdruck.
«Ich meinte, wir müssen doch alle warten», ergänzte er kleinlaut.
«Ich nicht!», fauchte Ketil, und der Mann schaute schnell wieder nach vorn.
Aki spürte Ketils Hand an seinem Arm, dann wurde er von ihm aus der Menge gezogen.
Sie marschierten außen an der Menschentraube entlang, bis Ketil sich weiter vorn einfach wieder hineindrängte. Zwar wagte es niemand, den riesigen Mönch aufzuhalten, aber von mehreren Seiten wurden Protestrufe laut.
Da fischte Ketil ein Pergament aus seiner Kutte und hielt es in die
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