Das Lied des Todes
Höhe.
«Diese Urkunde», rief er, «wurde vom Erzkanzler und Erzbischof Brun von Colonia ausgestellt. Sie gibt uns ungehinderten Zutritt zur Pfalanza.»
Die Proteste verstummten.
Am Tor verlangte ein Soldat das Pergament zu sehen. Ketil gab es ihm. Der Soldat betrachtete das Schreiben und machte den anderen Wächtern ein Zeichen, Ketil und Aki durchzulassen.
Sie betraten das Atrium. Aki staunte über die Kirche, die sich am Ende der Säulengänge in den blassblauen, nahezu wolkenlosen Morgenhimmel erhob.
Er glaubte an die Götter, die die Christen heidnisch und böse nannten, und er hielt Odin für den mächtigsten Gott. Aber in diesem Moment, in dem er sich über den mit Menschen gefüllten Innenhof des Atriums der Kirche näherte, beschlichen ihn Zweifel. Wie mächtig war ein Gott, zu dessen Ehren man ein solches Gebäude errichtete?
Als er neben Ketil vor dem Kirchenportal zum Stehen kam und noch einmal am Gebäude emporschaute, fühlte er sich klein und unbedeutend.
Ein solcher Gott, dachte er, muss über allen anderen stehen. Dennoch hasste er ihn in diesem Moment mehr als jemals zuvor.
«Eine schöne Kirche», raunte Ketil.
«Ja», bestätigte Aki knapp.
«Ich war schon einmal hier. Ich kenne mich hier aus. Komm! Wir müssen uns die besten Plätze sichern.»
Sie traten durch die geöffneten Flügeltüren. Auch in der Basilika, die im Gegensatz zu den meisten Kirchenbauten nicht langgezogen, sondern kreisförmig war, hielten sich Menschen auf, zumeist Mönche und Priester. Keiner von ihnen sagte etwas. Nur die Geräusche ihrer Schritte hallten von den hohen Wänden wider.
Auch Ketil schwieg, als er Aki zu einer Treppe lotste, die hinauf zur Empore führte, einem Umgang, der in weitem Rund das Kircheninnere umfasste. Kurz darauf erreichten sie eine unbewachte Tür. Ketil öffnete sie, und sie kamen in den hohen Turm, der über dem Portal thronte und dem Kirchenschiff vorgelagert war.
«Den Glockenturm hat mir Herr Brun bei unserem letzten Aufenthalt hier gezeigt», erklärte Ketil.
Von dort aus ging es weiter über eine steile Treppe, deren Stufen mit Vogelkot übersät waren. Aki zuckte zusammen, als klatschende Flügelschläge die Stille zerrissen. Zwei Tauben erhoben sich von einem Fenstersims und flogen davon. Die Stufen wanden sich immer weiter hinauf. Aki musste sich zwingen, nicht in die Tiefe zu schauen.
Es dauerte eine Weile, bis sie das obere Ende der Treppe erreichten und in einen kleinen Raum kamen, in dem unter einem Holzgestell eine Glocke von der Decke hing. Ketil ging weiter zu einem Fenster.
Aki folgte ihm. Der Ausblick war wundervoll. In der Ferne erstreckten sich sanft geschwungene Felder und Wälder, durch die die alte Römerstraße führte, über die sie gekommen waren. Die Morgensonne tauchte die Welt in ein schmeichelndes Licht. Selbst das Heerlager mit den Hunderten Zelten wirkte von hier oben friedlich und unscheinbar.
Aki durchsuchte mit den Augen das Lager nach dem Zelt des Grafen und glaubte es schließlich in der hintersten Reihe zu entdecken. Gestern Nacht hatte er lange danach suchen müssen und es in der Dunkelheit kaum gefunden, bis er auf zwei Blutmäntel stieß, denen er gefolgt war.
Wie auch gestern überkam ihn beim Anblick des Zeltes große Wehmut, und bei dem Gedanken, dass Asny dort festgehalten wurde, spürte er, wie sich sein Magen verkrampfte.
«Schau nach unten!», sagte Ketil.
Der gesamte Innenhof des Atriums war inzwischen mit Menschen gefüllt. Lediglich in der Mitte des Hofes gab es eine von Soldaten abgeriegelte, freie Fläche, die Aki vorhin nicht bemerkt hatte. Inmitten dieser Fläche stand auf einem Steinsockel ein Thron.
«Jetzt geht es los», raunte Ketil.
In die Menschenmenge kam Bewegung, als drei in schwarze Gewänder gehüllte Männer durch einen Seiteneingang ins Atrium kamen. Auf den Köpfen trugen sie Mitren, weiße Spitzhauben, die, wie Aki fand, reichlich albern aussahen. In einem der Männer erkannte er Brun wieder. Der Erzbischof ging mit ernster Miene vorweg durch eine Gasse in der Menge.
«Die anderen beiden sind Heinrich, der Erzbischof von Treberi», erklärte Ketil, «und Wilhelm, der Erzbischof von Magontia.»
Beim Thron blieben die drei Männer stehen.
Die letzten Geräusche auf dem Hof verebbten, als mit einem Mal der König vor die Menschen trat. Otto harrte am Rand des Säulengangs aus, bis die Soldaten die Menge weiter zurückgedrängt und die Gasse zum Thron verbreitert hatten.
Dann setzte er sich in Bewegung.
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