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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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still.
    Er öffnete den Mund und rief: «Seht! Hier führe ich zu Euch den von Gott erwählten und von allen Fürsten zum König gemachten Otto. Wenn Ihr der Wahl zustimmt, hebt die Rechte zum Himmel!»
    Die Menschen reckten ihre Hände, und der Ruf «Felicitas regi!» hallte durchs Kirchenschiff. Und noch einmal: «Felicitas regi!»
    Aki sah, dass auch Thankmar und die beiden anderen Männer ihre Hände erhoben hatten. Aber ihre Lippen blieben geschlossen.
    Am Altar überreichte Brun dem Königsknaben das Schwert und sagte laut: «Durch göttliche Vollmacht wird dir alle Gewalt im Reich übergeben. Mit diesem Schwert sollst du die Feinde Christi vertreiben – die barbarischen Heiden und die schlechten Christen.»
    Der Erzbischof legte dem Jungen einen kostbaren Mantel um, den er mit silbernen Fibeln befestigte, und gab ihm ein Zepter in die Hand. Dann machte Brun Platz für die anderen beiden Erzbischöfe. Einer träufelte dem Jungen Öl in die roten Locken, dann setzte ihm der andere die Krone aufs Haupt. Zum Abschluss der Krönung führten die Erzbischöfe den Jungen zu einem Thron zwischen zwei Marmorsäulen.
    Während sich ein vielstimmiger Gesang erhob, der die Kirche mit «Te Deum laudamus! Dich, Gott, loben wir!» erfüllte, schaute Aki zum Portal.
    Der Graf war verschwunden. Nur die anderen beiden Männer standen noch immer dort.
    Aki beugte sich weit über die Brüstung der Empore, um das Kirchentor besser einsehen zu können – und dort sah er Thankmar. Der Markgraf verließ gerade die Kirche. Er schien es sehr eilig zu haben.
    In dem Moment begann die Glocke zu läuten.

68.
    Der Klang der Glocke weckte Hakon. Er schreckte hoch. Durch die Ritzen zwischen den Brettern drang Tageslicht in die Hütte.
    Helles Licht, viel zu helles Licht!
    Er setzte sich abrupt auf, wischte sich durchs Gesicht und zupfte einen trockenen Halm aus seinem Bart. Der Platz neben ihm im Heu war leer.
    Immer noch schlug die Glocke.
    Er hatte zu lange geschlafen. Der Tag war längst angebrochen und die Slawin verschwunden. Das konnte nur eins bedeuten: Sie hatte sich davongeschlichen. Und warum hatte sie das getan? Um ihn zu verraten!
    Er erhob sich.
    Das verdammte Weib!
    Hakon verfluchte sich dafür, ihr vertraut zu haben. Hatte ihn das Leben nicht das Gegenteil gelehrt? Dass er niemandem trauen durfte. Niemandem außer sich selbst.
    Er trat wütend gegen einen Stein, der über den Boden kullerte und mit einem dumpfen Geräusch gegen die Bretterwand prallte.
    Auf dem Dach krächzte der Rabe.
    Warum hatte ihn der Vogel nicht gewarnt? Konnte Hakon nicht einmal mehr seinem Raben trauen? Bestimmt hatte die Frau auch ihn verzaubert, so wie sie es mit Hakon getan haben musste. Wie sonst hätte er sich dazu hinreißen lassen, ihr sein Leben und seine Gedanken zu verraten? All die Erlebnisse, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war: ein einsamer Mann, ruhelos, getrieben vom ungestillten Verlangen nach Rache. Ein Mann, der bereit war, für seine Rache das eigene Leben zu opfern. Um den Schwur zu erfüllen, den er seinem Vater gegeben hatte – einem Vater, der seinen Sohn verstoßen hatte.
    Alles hatte er ihr erzählt, dieser Natter.
    Nur den Plan nicht, wie er den Grafen töten würde. Aus dem einfachen Grunde, weil er noch keinen Plan hatte.
    Die ganze Nacht über hatte er geredet und geredet. Es hatte ihm gutgetan, all das loszuwerden, was er so lange in seinem Herzen vergraben hatte. Mit jedem Satz fühlte er sich leichter und freier, während sie bei ihm saß, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und ihm einfach nur zuhörte.
    Irgendwann musste er eingeschlafen sein, mit einem Gefühl, wie er es seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt hatte. Vertrauen, ja, das war es gewesen. Vertrauen in einen anderen Menschen. Vertrauen in sich selbst. Dass er es schaffen würde. Dass er den Grafen töten und endlich Ruhe finden würde.
    Hakon sah das Messer neben dem Heuhaufen liegen. Er hatte es vor dem Einschlafen abgelegt und wunderte sich, warum sie es nicht mitgenommen hatte. Wahrscheinlich glaubte sie, dass ihm das Messer auch nichts nutzte, wenn sie erst mit den Soldaten zurückkehrte. Und mit einer Handvoll Münzen für ihren Verrat.
    Er hob das Messer auf, steckte es hinter seinen Gürtel, ging zur Tür und spähte durch einen Spalt. Vor der Hütte war niemand zu sehen. Er öffnete vorsichtig die Tür. Sie knarrte fürchterlich.
    Der Rabe antwortete mit einem Krächzen.
    Hakon ging nach draußen. Die Sonne stand hoch über der Kathedrale.

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