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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Aki wunderte sich, dass dies der Bruder des mageren Brun sein sollte. Otto war groß und hatte eine kräftige Statur. Über seinen Schultern trug er einen langen, purpurfarbenen Mantel, darunter glänzte ein Brustpanzer.
    Einige Schritte hinter dem König folgte eine etwa dreißig Jahre alte Frau. Aki nahm an, dass es Ottos Gemahlin Adelheid war. Der Anblick der Frau irritierte ihn. Ihr Gesicht war auffallend blass, beinahe weiß, und ihr Mund verkniffen wie bei einer zornigen Greisin.
    Die beiden waren gerade am Thron angekommen, als ein kurzer, aber heftiger Jubelsturm durch das Atrium wogte.
    Im Seiteneingang war ein rothaariger Junge aufgetaucht. Aki schätzte ihn kaum älter als sechs Jahre. Der Knabe war wie der König in einen roten Umhang gewandet, darunter trug er ein blaues Hemd. Seine Füße steckten in Stiefeln, die ihm ein gutes Stück zu groß waren, und als er sich auf den Weg durch die Gasse machte, watschelte er beim Gehen wie eine Ente. Je näher er dem Thron kam, desto mehr nahm sein pausbäckiges Gesicht die Farbe seiner feuerroten Locken an. Es schien, als würde sein Kopf glühen.
    «Ist er das?», fragte Aki.
    Ketil nickte zustimmend. «Das ist der Sohn des Königs. Otto heißt er, so wie sein Vater.»
    Es war Aki völlig unverständlich, warum die Sachsen einen kleinen Jungen zum König machten. Wie sollte der Knabe Entscheidungen treffen? Wie über Recht und Unrecht entscheiden? Und dazu noch ein Knabe wie dieser, der in seiner Gestalt und Ausstrahlung alles vermissen ließ, was einen König in Akis Augen auszeichnete: Würde, Erhabenheit, Strenge, Macht …
    «Sie haben ihm die falschen Schuhe angezogen», meinte er.
    «Mhm. Da wächst er schon noch rein. Schau lieber hin, was nun geschieht!»
    Klein-Otto war zum Thron gewatschelt. Auf ein Zeichen seines Vaters begann er die drei Stufen zu erklimmen, was ihm in den Stiefeln einige Mühe bereitete. Oben angekommen, ließ er sich auf den Thron fallen und versank beinahe zwischen den Lehnen.
    Jetzt traten die Erzbischöfe vor und reichten dem Jungen nacheinander ihre Hände. Wieder erhob sich Jubel, dieses Mal anhaltender. Die Rufe verstummten auch nicht, als nach den Erzbischöfen andere Männer zum Thron vorgelassen wurden. Geistliche und weltliche Führer huldigten dem Knaben. Das Ganze schien kein Ende zu nehmen und begann Aki allmählich zu langweilen – bis er plötzlich den Grafen sah.
    Er ballte die Hände zu Fäusten.
    Der Graf stand halb verdeckt hinter einer Marmorsäule am Rande des Atriums und verfolgte die Zeremonie mit versteinerter Miene.
    «Siehst du», sagte Ketil. «All die Fürsten, Herzöge, Grafen, Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Edelleute geloben dem neuen König Treue gegen alle Feinde des Reichs. He, Junge! Hörst du mir überhaupt zu?»
    Warum, fragte sich Aki, huldigt der Graf nicht dem neuen König?
     
    Nach der Zeremonie im Atrium begaben sich die Menschen in die Kirche.
    Ketil und Aki stiegen die Treppe zur Empore wieder hinab. Von der erhöhten Stelle aus hatten sie einen guten Blick auf das Innere der Kirche. Unten versammelte sich die Menge. Der Altar stand im Zentrum des von Säulen und Gewölben umgebenen Kirchenschiffs und war mit Reliquien und Insignien belegt: ein langes Schwert und eine mit Edelsteinen besetzte Krone. Die heilige Lanze mit der vergoldeten Spitze hatte man so am Altar befestigt, dass sie wie ein mahnender Finger in die Höhe ragte.
    Noch immer schoben sich Menschen in die Kirche und verteilten sich um den Altar, vor dem die drei Erzbischöfe und die Herrscherfamilie warteten. Auch die Empore füllte sich mit Zuschauern.
    «Siehst du die Lanze dort unten?», flüsterte Ketil. «Der König hat sie in der Schlacht gegen die Magyaren getragen. Es heißt, Gottes Licht sei auf die Spitze gefallen, damit Otto die Schlacht gewinnt – und er hat gewonnen.»
    Aki interessierte die Lanze nicht. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, bis er Thankmar unweit des Portals entdeckte. Der Graf stand bei den beiden Männern, die gestern Nacht bei ihm gewesen waren. Aki war sich ganz sicher.
    Am Altar stellte sich unterdessen Erzbischof Brun in Positur. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt nicht mehr den schwarzen Umhang, sondern war bekleidet mit einem Leinenrock, einem Messgewand und darüber einer Stola. In der rechten Hand hielt er den Bischofsstab.
    Allmählich verebbten das Gemurmel und die Geräusche scharrender Füße. Dann, als Brun vortrat und die linke Hand hob, wurde es ganz

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