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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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war er in den vergangenen Jahren an dem Wildpfad vorbeigekommen, und jedes Mal war er versucht gewesen, die Urkunde aus dem Versteck zu holen. Aber die Vernunft hatte ihn immer wieder davon abgehalten. Er musste warten, bis es so weit war. Und nun war es so weit!
    Doch je näher er der Stelle kam, die durch drei eng stehende Buchen auf der einen Seite des Wegs und durch den Bach auf der anderen Seite markiert war, desto mehr beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Er konnte nicht sagen, woher es kam und welchen Grund es dafür gab. Nur, dass es ihm Angst bereitete.
    Er erkannte die Buchen, die wie riesige Finger aus dem Erdboden ragten. Er zügelte das Pferd, das schnaubend zum Stehen kam, und sprang hinunter. Eine Böe ließ das Laub um ihn herum aufwirbeln.
    Thankmar führte das Pferd einige Schritte in den Wald, bis er auf den Bach stieß. Dort band er es mit dem Zügel an einen Baum. Unruhig trampelte das Pferd mit den Hufen. Thankmar streichelte sein Fell. Dann machte er sich auf den Weg.
    Er war nur wenige Schritte weit gekommen, als sich das Gefühl zurückmeldete. Es war wie ein Kribbeln im Nacken, so als ob …
    Er drehte sich um. Aber da war niemand, der ihn beobachtete. Da waren nur die Bäume, die vom Wind bewegt wurden. Die Stämme knirschten und ächzten.
    Die Seherin, schoss es Thankmar durch den Kopf. Sie ist hier! Sie beobachtet mich.
    Nicht jetzt! Bitte nicht jetzt, flehte er. Er spürte, wie ihre Macht in ihm aufstieg und ihre Stimme in seinen Kopf drängte.
    «Halt dein Maul!», brüllte Thankmar die Bäume an. «Halt dein verdammtes Maul! Ich bin hinter dir her, und ich werde dich zwingen, den Fluch von mir zu nehmen …»
    Irgendwo splitterte ein Ast, brach mit lautem Getöse durch andere Äste und prallte dumpf auf den Waldboden.
    Dann ließ der Wind nach, und es wurde stiller.
    Thankmar ahnte, dass die Ruhe trügerisch war. Der Wind sammelte sich wie ein Heer vor dem großen Sturm auf den Feind.
    Er horchte in sich hinein. Sein Herz schlug noch immer heftig, aber die Stimme der Seherin war verstummt. Allmählich beruhigte sich sein Herz; er atmete einige Mal tief durch. Als er sich in Bewegung setzte, begann es zu regnen, und der Wind kehrte zurück.
    Schritt für Schritt tastete er sich voran, den Bachlauf zur linken Seite. Bald traten die Bäume auseinander, der Pfad wurde etwas breiter. Thankmar begann zu laufen, schneller, immer schneller. Er stolperte über eine Wurzel und landete mit dem Gesicht voran im tropfnassen Laub. Doch er sprang wieder hoch, rannte weiter, rutschte wieder aus, zerriss seinen Mantel an Dornen und Ästen. Zweige peitschten sein Gesicht.
    Und dann endlich sah er den Hügel auftauchen.
    Er wischte sich das Regenwasser aus den Augen und ließ sich vor dem Stein zu Boden sinken. Er fühlte sich wie ein Pilger, der nach einer kräftezehrenden Reise am Schrein mit der heiligsten aller Reliquien angekommen war.
    Thankmar berührte den Stein, dessen Oberfläche rau und nass war. Er legte beide Hände dagegen und drückte, bis der Stein umfiel und er ihn ein Stückchen zur Seite rollen konnte. Darunter war eine Mulde im Boden, die sich nun schnell mit Wasser füllte. Er tauchte seine Finger hinein und begann zu graben. Die Erde hinter sich schleudernd, wühlte er tiefer und tiefer. Dann endlich, als er schon bis zu den Armbeugen im Loch steckte, stieß er auf etwas Hartes. Der Deckel der Schatulle!
    Vorsichtig legte er sie frei und schachtete die Erde um sie herum aus, bis er sie anheben konnte. Unablässig rann ihm Wasser ins Gesicht. Seine Kleider waren inzwischen vollkommen durchnässt. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um besser sehen zu können.
    Und dann war ihm, als würde ihn ein Blitz durchfahren und in zwei Hälften reißen.
    Er hatte die Schatulle doch mit einem Schloss gesichert. Ja, ganz sicher hatte er das getan. Aber da war kein Schloss mehr.
    Seine Finger zitterten, als er den Deckel berührte und ihn aufklappte.
    Er griff in die Kiste. Seine Kehle zog sich zusammen. Das Tuch, in das er die Urkunde gewickelt hatte, war nicht mehr da. Stattdessen ertastete er einen hölzernen Gegenstand, der an einem Lederband befestigt war.
    Er holte ihn heraus und erkannte den spitz zulaufenden Holzspan aus dem Altar, auf dem sein Vater gestorben war. Es war – Thankmars Talisman.
    Und mit der Wucht eines herabfahrenden Henkerschwerts wurde ihm bewusst, was das zu bedeuten hatte.

28.
    Der Wellenspalter war ein Schiff, das seinen Namen nicht mehr

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