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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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verdiente. Es war in die Jahre gekommen und brauchte dringend eine gründliche Überholung. Die Planken waren morsch, viele Riemenpforten ausgeschlagen. Wasser drang durch zahllose Stellen ein, an denen sich das Werg gelöst hatte.
    Der Zustand der Mannschaft war kaum besser. Sie wurde vom einäugigen Schiffsführer Pálnir befehligt und bestand aus etwa vierzig Mann, zu denen auch Hakon gehörte. An ein vergleichbar schlechtes Jahr konnten sich auch die Älteren an Bord nicht mehr erinnern. Immer wieder waren die Seeräuber gezwungen gewesen, in Häfen auszuharren und auf Reparaturen zu warten, anstatt Handelsschiffe oder Gehöfte an den Küsten zu überfallen. Mal war das Steuerruder gebrochen, mal das Segel gerissen, mal waren Planken geborsten.
    An diesem Morgen stand Hakon am Vordersteven, zu dem Pálnir ihn beordert hatte. Er sollte die Küste beobachten. Das tat er nun schon seit einiger Zeit, ohne etwas Auffälliges zu sehen.
    Der Rabe saß wie gewöhnlich auf seiner Schulter. Hin und wieder ließ er ein leises Krächzen hören, etwa wenn hinter ihnen der Mast bedrohlich knirschte. Vor einigen Tagen war der Mast bei einem Herbststurm so schwer beschädigt worden, dass er beinahe zerbrochen wäre. Der Sturm hatte sie einige Meilen südlich der Siedlung Túnsberg überrascht. Dort hatten die Wikinger ein letztes Mal an Land gehen wollen, um einen Hof zu überfallen und Beute zu machen. Doch die Götter hatten ihnen den Erfolg nicht gegönnt.
    Sie gönnten ihnen gar nichts!
    In seiner Verzweiflung hatte Pálnir einen zauberkundigen Alten, der seit vielen Jahren auf dem Wellenspalter fuhr, die Runenstäbe werfen lassen. Aus dem Orakel las der Alte, dass der Wettergott Thor ihnen zwar riet, die Heimreise anzutreten. Mit der Einschränkung jedoch, dass sie noch ein letztes Mal versuchen sollten, Beute zu machen. Wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab.
    Dieser göttliche Rat war so gut wie gar keiner, dachte Hakon.
    Dennoch hatte er Pálnir nicht widersprochen, als dieser ihm den Befehl gegeben hatte, nach etwas Ausschau zu halten, von dem niemand sagen konnte, was es war.
    Der Wellenspalter segelte im schwachen Wind etwa eine halbe Meile vor der Westküste, an der Stämme der Svea lebten. Pálnir, der mit seinen fünfundzwanzig Lebensjahren bereits ein erfahrener Seemann war, hoffte, der Sturm könnte ein Schiff an die Küste getrieben haben. Aber sosehr Hakon sich auch anstrengte, er entdeckte kein manövrierunfähiges Schiff oder gar ein Wrack zwischen den kaum überschaubaren Schären, die wie Walbuckel aus dem Wasser ragten.
    Ein Jahr noch, dachte er, während er die Küste an sich vorüberziehen ließ. Ein ganzes verfluchtes Jahr! Ein Winter, ein Frühjahr, ein Sommer und ein Herbst. Erst dann war die von Sigurd gesetzte Frist vorüber, und Hakon konnte wieder in die Heimat zurückkehren.
    Was wohl aus Eirik geworden war? Diese Frage stellte sich Hakon jeden Tag. Sechs Jahre war der Junge mittlerweile alt und die meiste Zeit davon ohne seinen Vater aufgewachsen. Ob er sich überhaupt noch an ihn erinnerte?
    Noch immer hatte Hakon lebhaft jenen Frühlingstag vor Augen, an dem er Hladir hatte verlassen müssen. Der Schnee taute, und das Schmelzwasser ergoss sich in Strömen in den großen, wieder eisfreien Fjord. Hakon ging auf das erste Handelsschiff, das im Hafen von Hladir anlegte. Das Schiff kam aus dem Norden und hatte Walrosszähne, Vogelfedern und Otterpelze geladen, die für die Sveasiedlung Birka bestimmt waren. Doch es sollte sein Ziel niemals erreichen.
    Im Eyrasund wurden sie von Seeräubern angegriffen, deren Anführer Pálnir war. Ein junger Däne, tollkühn und wagemutig.
    Nachdem er das Handelsschiff eingenommen hatte, ließ Pálnir alle Männer an Bord erschlagen. Nur Hakon wurde verschont. Er hatte sich als Einziger zur Wehr gesetzt und Pálnir beeindruckt, indem er drei seiner Männer getötet hatte. Einen weiteren Seeräuber hatte der Rabe so schwer verletzt, dass der Mann wenig später an den Verletzungen starb.
    Pálnir hatte Hakon die Wahl gelassen: Entweder würde er sich den Wikingern anschließen oder sterben wie die Besatzung des Handelsschiffs.
    Die Wahl war Hakon nicht schwergefallen. Natürlich wollte er leben. Aber er sah auch die Gelegenheit, bei den Seeräubern das zu lernen, was Sigurd von ihm erwartete: ein Mann zu werden, ein würdiger Jarl.
    Drei erfolgreiche Sommer hatte Hakon bei den Seeräubern erlebt. Im Herbst waren sie immer mit einer Schiffsladung Silbermünzen,

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